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Doch »sollen wir«, die wir uns einer bahnbrechen<strong>de</strong>n Tat bewußt sind, »ihm<br />
vielleicht das Budget einer Zeitung in <strong>de</strong>r heutigen Situation vor Augen führen«<br />
und ihm<br />
wie einem, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Kyffhäuser kommt, erzählen, daß eine<br />
wirtschaftliche Stagnation vorhan<strong>de</strong>n sei, daß die anständigen<br />
Zeitungen von Abonnement und Inserat zu leben haben und daß<br />
wir we<strong>de</strong>r die Operettenpreise noch die Fleischpreise für uns verlangen<br />
können, weil wir lei<strong>de</strong>r nur geistige Arbeiter sind, Arbeiter,<br />
die das Privilegium haben, geistige Ware zu liefern und nebenbei<br />
das Privilegium, sich von einem Staatsanwalt, <strong>de</strong>r gewiß die nötige<br />
Kompetenz dazu besitzt, beleidigen und kränken zu lassen?<br />
Aber <strong>de</strong>r Staatsanwalt meinte ja auch, daß die anständigen Zeitungen von<br />
Abonnement und Inserat zu leben haben, und er wäre gewiß nicht so unzart,<br />
geistige Arbeiter zu kränken, wenn die geistige Ware, die sie liefern, <strong>de</strong>utlich<br />
erkennen ließe, daß sie als die geistige Aufmachung einer Ware vom Inserenten<br />
bezahlt sei. Doch gibts eben zwischen Kaffeehaus und Kyffhäuser Dinge,<br />
die jenem entgangen sein müssen und die von großer Lebendigkeit sind, <strong>de</strong>nn<br />
sie betreffen das, worauf es eigentlich ankommt im Leben: Kaufhäuser.<br />
Sollen wir vielleicht Herrn Dr. Formanek die Kin<strong>de</strong>rfibel <strong>de</strong>r Nationalökonomie<br />
erklären? Sollen wir ihm eine Vorlesung darüber<br />
halten, daß die Reklame die größte volkswirtschaftliche Be<strong>de</strong>utung<br />
besitzt, über die erst vor kurzem <strong>de</strong>r Prinz von Wales gesprochen<br />
hat?<br />
So maßgebend das sein mag, dürfte er doch wohl nicht die volkswirtschaftliche<br />
Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Reklame in <strong>de</strong>m erhöhten Nutzen, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>r Zeitung<br />
durch textliche Verschleierung abwirft, erkannt haben, er müßte <strong>de</strong>nn rein<br />
<strong>de</strong>r Ansicht sein, daß die Nationalökonomen Inseratenagenten sind und umgekehrt.<br />
Aber welche Burleske wäre <strong>de</strong>m Einfall, einen Raubzug gegen die Firmen<br />
Zentraleuropas als Frie<strong>de</strong>nsfest zu feiern, nicht erreichbar! Das Neue<br />
Wiener Tagblatt schreibt es an die Stirn, die allerdings die <strong>de</strong>s Herrn Sieghart<br />
ist, was alles die Wiener Presse <strong>de</strong>m österreichischen Staate »unausgesetzt<br />
an Gratisdiensten leistet«, was sie alles »kostenlos, freiwillig und ohne Entgelt«<br />
veröffentlicht und in wie vielen Fällen sie sich <strong>de</strong>r Regierung »gratis<br />
und franko zur Verfügung stellt«. Und niemand bezahle sie auch dafür, daß<br />
sie »die Stimmung <strong>de</strong>r verzweifelt zusammengebrochenen Volksmassen aufgerichtet«<br />
hat; <strong>de</strong>nn »ohne sie wäre die Ordnung nicht aufrechtzuhalten und<br />
ein Regieren unmöglich gewesen«. Wenn also <strong>de</strong>r Staat will, daß die Presse<br />
ihm die Ordnung aufrecht hält, so halte er ihr <strong>de</strong>n Zeitungsdienst aufrecht!<br />
Zu<strong>de</strong>m sei sie »gera<strong>de</strong>zu die diplomatische Repräsentation, die Österreich<br />
heute in <strong>de</strong>n Kulturlän<strong>de</strong>rn genießt«: wolle man ihr »die materiellen Mittel<br />
zur Repräsentation nehmen?« Der Prozeß gegen die Neue Freie Presse sei<br />
»ein Politikum«. Im alten Österreich, also in einer Zeit konsolidierter politischer<br />
und administrativer Verhältnisse«, wäre es nicht möglich gewesen, daß<br />
so eine Anklage ohne Einverständnis mit <strong>de</strong>m Justizminister erhoben wird; es<br />
liege hier »ein neuer beachtenswerter Fall <strong>de</strong>s Zusammenbruches guter,<br />
wohlbegrün<strong>de</strong>ter Traditionen und <strong>de</strong>r Kompetenzverwirrung in unserem Staate<br />
vor«. Denn die Justiz hat ohne Beeinflussung durch die von <strong>de</strong>r Presse abhängige<br />
Regierung ein Gesetz gegen die Presse angewen<strong>de</strong>t! Und sie wird unter<br />
<strong>de</strong>utlichen Hinweisen auf Dienste, die die Presse nicht mehr gratis leisten<br />
wür<strong>de</strong>, wie etwa die Propaganda für die Völkerbundanleihe — aber die besorgt<br />
sie ja nicht gratis — vor einer Wie<strong>de</strong>rholung solchen Übergriffs ge-<br />
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