Glossen - Welcker-online.de
Glossen - Welcker-online.de
Glossen - Welcker-online.de
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
zur Szene wird und zu einer, die sich für ihre sittenrichterliche Ten<strong>de</strong>nz am<br />
Stoff nicht genugtun kann, und wenn die unvermeidliche Wirkung auf das Auditorium<br />
vom Leiter <strong>de</strong>r Vorstellung pünktlich mit <strong>de</strong>m Verweis quittiert wird:<br />
»Wir sind hier in keinem Theater!«, so ersteht zu solcher Zwiespältigkeit auch<br />
je<strong>de</strong>smal <strong>de</strong>r Theaterplau<strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>r eben das hinausträgt, was er ta<strong>de</strong>lnswert<br />
fin<strong>de</strong>t, und eben das ta<strong>de</strong>lnswert fin<strong>de</strong>t, was er hinausträgt. Die Moralbarbarei<br />
<strong>de</strong>s Gerichtszimmers wäre, so verabscheuenswert sie ist, ja noch erträglich,<br />
wenn nicht auch je<strong>de</strong>s Wort, das <strong>de</strong>m Zimmertakt zuwi<strong>de</strong>r ist, durch das<br />
Megaphon <strong>de</strong>r Berichterstattung gesprochen wäre. Keinem Verhandlungsleiter<br />
aber wird es einfallen, die Neue Freie Presse wenigstens beim Wort ihrer<br />
satirischen Mißbilligung zu nehmen und, um ihr das Ärgernis zu ersparen, ihrem<br />
Vertreter die Tür zu weisen, <strong>de</strong>nn die »Öffentlichkeit« wird nur im Fall<br />
flagranter Verletzung <strong>de</strong>ssen, was sie für Sittlichkeit halten, ausgeschlossen<br />
und dieser Vorgang gewährleistet erst die Anwesenheit jener Leute, welche<br />
die im Raum aufgehobene Öffentlichkeit im weiteren Umfang wie<strong>de</strong>r herstellen,<br />
genau so wie sie die zugelassene vervielfachen. Das Schandblatt übt dabei<br />
die vornehme Praxis, nicht nur anstößige Ausdrücke, son<strong>de</strong>rn auch Namen<br />
durch Anfangsbuchstaben zu ersetzen, versteht sich, wenn es sich um<br />
die von Angehörigen <strong>de</strong>r bürgerlichen Kreise han<strong>de</strong>lt. Das sieht dann so aus:<br />
Wien, 12. April. (Die unentbehrliche Freundin <strong>de</strong>s Gatten.) Oberlan<strong>de</strong>sgerichtsrat<br />
Dr. Weiß (Strafbezirksgericht I) hatte heute<br />
über eine bemerkenswerte Klage zu verhan<strong>de</strong>ln, welche die Gattin<br />
<strong>de</strong>s Direktorstellvertreters <strong>de</strong>r städtischen Elektrizitätswerke<br />
Frau Elisabeth H. gegen die Private Marianne M. wegen Ehestörung<br />
nach § 525 St. G. angestrengt hatte ...<br />
An <strong>de</strong>r Klage ist aber nichts bemerkenswert als die Frechheit, einen Bericht<br />
darüber zu bringen, und die Schamlosigkeit seiner Diskretion. Ein Parlament,<br />
das da nicht endlich zum Rechten sieht und <strong>de</strong>r Presse, <strong>de</strong>r es endlich<br />
das Prostitutionsmerkmal aufgeprägt hat, nicht auch solche Fesseln anlegt,<br />
die ihr die Kontrolle frem<strong>de</strong>r Sittlichkeit erschweren, soll <strong>de</strong>r Teufel holen!<br />
*<br />
Wie die Wirklichkeit meinen Blick bedient und meinem Wort auf <strong>de</strong>m<br />
Fuße folgt, ist nachgera<strong>de</strong> gespenstisch. Kaum hatte ich jenes über das Treiben<br />
<strong>de</strong>s Schandblattes und über die Dringlichkeit einer gesetzlichen Remedur<br />
nie<strong>de</strong>rgeschrieben, so las ich:<br />
(Die Berichterstattung über Scheidungsprozesse in England.) Aus<br />
London wird uns geschrieben: Die prozessualen Notwendigkeiten<br />
bringen es mit sich, daß bei Verhandlungen von Scheidungsaffären<br />
das intime Privatleben <strong>de</strong>r Parteien mit schonungsloser Deutlichkeit<br />
erörtert wird. Die gerichtliche Untersuchung ist wie die<br />
Son<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Arztes, die an wun<strong>de</strong> Stellen rührt und ohne Empfindlichkeit<br />
und — Diskretion gehandhabt wer<strong>de</strong>n muß. Daß auch das<br />
Gericht zur Ausschaltung <strong>de</strong>r Diskretion genötigt ist, begegnet<br />
<strong>de</strong>m lebhaften Bedauern seiner Funktionäre. Wie<strong>de</strong>rholt haben<br />
Richter und Rechtsanwälte diesem Bedauern in offener Verhandlung<br />
Ausdruck gegeben ... In je<strong>de</strong>m Falle stehen aber die Parteien<br />
schutzlos da, <strong>de</strong>ren Leben neugierigen Blicken preisgegeben erscheint,<br />
weil die Verhandlungen öffentlich sind und eine gewisse<br />
Berichterstattung in <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>r gerichtlichen Vorfälle<br />
<strong>de</strong>n guten Geschmack vermissen läßt. Selbstverständlich sind die-<br />
30