Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus
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wurde <strong>Wilna</strong> vielleicht zum Beginn des bewaffneten jüdischen Widerstandes im Osten „Laßt<br />
uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen!“, heißt es im Aufruf der „Vereinigten Partisanen<br />
Organisation“ vom 1. Januar 1942 „Weg mit allen Illusionen bei Menschen, die blind<br />
geworden sind aus Verzweiflung! Eure Kinder, eure Frauen, eure Männer gibt es nicht mehr!<br />
Ponary ist kein Lager. Man hat sie alle erschossen. Hitler hat ein System geschaffen, um die<br />
Juden in ganz Europa zu vernichten. Es war unser Schicksal, die ersten dabei zu sein. Laßt<br />
uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen! Ja, wir sind zu schwach <strong>und</strong> haben niemanden,<br />
der uns hilft. Aber unsere einzige würdige Antwort an den Feind kann nur Widerstand heißen!<br />
Brüder, es ist besser, im Kampf, aber frei zu sterben, als ein <strong>Leben</strong> von der Henker Gnaden zu<br />
fristen. Widerstand bis zum letzten Atemzug!“<br />
Die <strong>Wilna</strong>er Partisanen schaffen fünf MGs ins Getto, sie bauen Radiosender, sie stellen Verbindung<br />
her zu den Partisanenverbänden in den umliegenden Wäldern, aber sie können in<br />
zwei verzweifelten Aktionen im Herbst 1943 die Katastrophe nicht abwenden, <strong>und</strong> der Ausbruch<br />
aus der Stadt mißlingt. Sie organisieren die Sabotage in den Fabriken <strong>und</strong> sprengen Depots<br />
<strong>und</strong> Eisenbahngleise, doch sie können dem Terror der Deutschen nichts als ihre Ehre <strong>und</strong><br />
ihren Mut entgegenstellen. Und sie scheitern an Jakob Gens, den Vorsitzenden des Judenrats<br />
von <strong>Wilna</strong>, der die furchtbaren Worte gesagt hatte: „Ich, Gens, führe euch in den Tod; <strong>und</strong><br />
ich, Gens, möchte die Juden vor dem Tod retten. Wenn man mich um 1.000 Juden bittet, dann<br />
liefere ich sie aus. Denn wenn wir Juden sie nicht ausliefern, dann werden die Deutschen<br />
kommen <strong>und</strong> sie sich mit Gewalt nehmen <strong>und</strong> dann wird es nicht nur um 1.000, sondern um<br />
Abertausende gehen <strong>und</strong> das ganze Getto wird zugr<strong>und</strong>egehen.“<br />
Doch kein Opfer rettet vor der Vernichtung durch die Deutschen, auch als der Führer der Partisanen,<br />
Isaak Witenberg am 16. Juli 1943 an sie ausgeliefert wird. Der Ort, an dem sich das<br />
ereignet hat, ist nicht abgelegen, nicht von Gras überwuchert. Es ist die Mitte der Stadt, durch<br />
die wir gehen. Die sieben Straßen des Gettos, deren Gr<strong>und</strong>riß das Emblem des <strong>Wilna</strong>er Gettos<br />
bilden — die alte Straszuna, die Szpitalna, die Jatkowa, Oszmianska, Disnienska- <strong>und</strong> Rudnicka-Straße<br />
— existieren noch.<br />
Die schöne Stadt wird zum Horror. Unter dem Betonsockel, auf dem das Hotel „Turistas“ errichtet<br />
ist, muß die WilkomirskajaStraße verlaufen sein — die Straße, in der deutsche Kameraleute<br />
den Pogrom vom 6. September 1941 filmten. In einem der prächtigen Gründerzeitbauten<br />
auf dem Lenin Prospekt, früher Gediminas Straße, müssen die deutschen Verwaltungsstellen,<br />
Gestapo <strong>und</strong> SS logiert haben. An den Häuserwänden der Altstadt, die nun so sauber<br />
sind, haben die Erlasse Franz Muhrers gehangen: „Juden dürfen keine Uhren haben“, „Juden<br />
dürfen im Getto nicht beten“, „Juden müssen vor Deutschen den Hut abnehmen <strong>und</strong> zur Erde<br />
blicken“. Irgendwo muß die Stelle sein, wo der Deutsche Schweichenberg einen H<strong>und</strong> erschoß<br />
<strong>und</strong> den <strong>Wilna</strong>er Juden befahl, ihn zu bestatten <strong>und</strong> an seinem Grab zu weinen. Im Gebäude<br />
der Philharmonie, wo ein Abend mit Musik Paul Hindemiths gegeben wird, gab es Revuen<br />
für die Henker in der Etappe, keine zwei Gehminuten vom Getto entfernt. Der Bahnhof,<br />
auf dem der Fremde angekommen ist, führt auch nach Ponary, <strong>und</strong> auf dem Güterbahnhof<br />
wurden die Bestände des YIVO nach Berlin verfrachtet. Irgendwo unter dem Kopfsteinpflaster<br />
muß die Kanalisation verlaufen, durch welche die jüdischen Partisanen sich bis zum Gebäude<br />
der litauischen Kriminalpolizei durchgearbeitet hatten.<br />
Unübersehbar der große ockerfarbene Komplex des Lukischki Gefängnisses, den der russische<br />
Reiseführer von 1909 bereits als einen Musterbau modernster Einschließungstechnik gerühmt<br />
hatte: errichtet nach dem Panoptikum Prinzip, mit Werkstätten, zwei Kirchen, zentraler<br />
Beheizung <strong>und</strong> Ventilation. Auch heute ist dort noch ein Gefängnis, unerwartet inmitten der<br />
schönen Gebäude der bürgerlichen Neustadt <strong>und</strong> am Rande des neuen, viel zu groß geratenen<br />
Regierungsviertels. Lukischki — das war in dieser Zeit die Stätte des Martyriums des vier<strong>und</strong>achtzigjährigen<br />
Jakob Wygodzki, des „Vaters des litauischen Jerusalem“ <strong>und</strong> vieler Tausend<br />
anderer.<br />
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