Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus
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Tagebuch, sondern um eine Rekonstruktion aus dem Gedächtnis, gewissermaßen also um ein<br />
erinnertes Tagebuch. Das erklärt zum einen die durchgestaltete, literarische Qualität des Textes.<br />
Und das macht zum anderen verständlich, warum in die Schilderung des unmittelbar Erlebtem<br />
manchmal auch spätere Erfahrungen <strong>und</strong> Erkenntnisse einfließen. Leider sind solche<br />
Stellen nicht kenntlich gemacht worden, wie überhaupt die Kommentierung allzu spärlich<br />
ausgefallen ist.<br />
Die Erzählung beginnt mit dem 22. Juli 1941, als deutsche Flugzeuge <strong>Wilna</strong> bombardieren<br />
<strong>und</strong> die Rote Armee, die Litauen seit Juni 1940 besetzt hält, sich zurückzieht. Maschas Vater,<br />
der mit der sowjetischen Besatzungsmacht zusammengearbeitet hat, gelingt die Flucht. Seine<br />
Familie bleibt zurück <strong>und</strong> muss erleben, wie nach dem Einmarsch der Wehrmacht das <strong>Leben</strong><br />
für die <strong>Wilna</strong>er Juden sich schlagartig verändert: Sie dürfen keine Restaurants <strong>und</strong> Cafés<br />
mehr besuchen, keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, müssen Radiogeräte <strong>und</strong> Wertsachen<br />
abliefern <strong>und</strong>, was Mascha als besondere Demütigung empfindet, den Davidstern tragen:<br />
„Die Deutschen betrachten uns überhaupt nicht als Menschen, sie markieren uns wie Schafe…<br />
Ich werde damit jedenfalls nicht auf die Straße gehen – ich schäme mich, einem Lehrer<br />
oder gar einer Fre<strong>und</strong>in so zu begegnen.“<br />
Die Häscher der SS machen, unterstützt von litauischen „Hilfswilligen“, auf offener Straße<br />
Jagd auf Juden, <strong>und</strong> früh wird bekannt, was mit den Gefangenen geschieht: Sie werden in<br />
Panieri, einige Kilometer südlich von <strong>Wilna</strong>, erschossen <strong>und</strong> in Massengräbern verscharrt.<br />
Ponar – so der jiddische Name des Ortes – wird in diesem Tagebuch zum Symbol des Schreckens.<br />
R<strong>und</strong> 70.000 litauische Juden, die meisten aus <strong>Wilna</strong>, wurden hier ermordet.<br />
Doch inmitten des unfassbaren Grauens, das die Rolnikaites täglich erleben, gibt es einen<br />
Lichtblick: Einer von Maschas Lehrern, Henrikas Jonaitis, unterstützt die Familie, wo er nur<br />
kann. Er versorgt sie mit <strong>Leben</strong>smitteln, gibt seine letzten Rubel für sie her. Dieser selbstlose<br />
Mann steht stellvertretend für jene Litauer, die ihren bedrängten jüdischen Mitbürgern zur<br />
Hilfe kamen <strong>und</strong> dabei ihr eigenes <strong>Leben</strong> riskierten. Die gab es eben auch, <strong>und</strong> offenbar in<br />
größerer Zahl als in dem Land, von dem das große Verbrechen ausging.<br />
Anfang September 1941 müssen die Rolnikaites ihre Wohnung räumen <strong>und</strong> ins <strong>Ghetto</strong> umziehen.<br />
Maschas Mutter wird Näherin in einer Fabrik <strong>und</strong> bekommt den begehrten Facharbeiter-Ausweis,<br />
der die Familie vorerst vor Selektionen schützt. Was der Überlebenskampf im<br />
<strong>Ghetto</strong> für die dort Eingepferchten bedeutete, das führt dieses Tagebuch eindringlich vor Augen.<br />
Die Rolnikaites müssen sich die Wohnung mit acht Familien teilen. Da die schmalen Rationen<br />
nicht ausreichen, müssen die <strong>Ghetto</strong>bewohner versuchen, zusätzliche <strong>Leben</strong>smittel<br />
durch die Kontrollen am <strong>Ghetto</strong>tor zu schmuggeln – ein lebensgefährliches Unternehmen.<br />
Und immer wieder finden des Nachts Razzien statt, bei denen Menschen verhaftet werden.<br />
Jedes Mal schrickt Mascha zusammen, wenn sie das dumpfe Geräusch der Stiefel hört:<br />
„Wenn man doch nur einen einzigen Tag ohne Todesangst leben könnte!“<br />
Seit dem 17. Jahrh<strong>und</strong>ert trug <strong>Wilna</strong> den stolzen Namen „litauisches Jerusalem“. Hier hatte<br />
sich ein besonders reiches jüdisches Kulturleben entwickelt. Und selbst unter den extremen<br />
Bedingungen des <strong>Ghetto</strong>s suchten dessen Insassen diese Tradition fortzusetzen. Mascha<br />
Rolnikaite berichtet, wie wichtig die Kultur als Mittel der geistigen Selbstbehauptung war. Es<br />
gab eine Bibliothek, es gab Schulen, ein Theater, zwei Chöre <strong>und</strong> ein Symphonieorchester, zu<br />
dessen Repertoire Beethovens Neunte gehörte: „Der Text zum vierten Satz ist Schillers Ode<br />
,An die Freude!‘ Den Inhalt hat uns jemand übersetzt. Es heißt dort, alle Menschen seien Brüder.<br />
Bestimmt ist das so… Nur schade, dass die Deutschen davon nichts wissen oder wissen<br />
wollen.“<br />
Und immer fragt sie: „Woher der wilde Hass auf uns?“<br />
Die militärischen Rückschläge der Wehrmacht vor Moskau im Dezember 1941 wecken Hoffnungen.<br />
An der Jahreswende 1941/42 zirkulieren Flugblätter im <strong>Ghetto</strong>, die dazu aufrufen,<br />
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