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Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus

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Aus dem historischen Abstand betrachtet, liefert das <strong>Ghetto</strong>protokoll des Grigorij Schur Erkenntnisse,<br />

wie Faschismus funktioniert <strong>und</strong> mit welchen politischen <strong>und</strong> psychologischen<br />

Techniken die Nationalsozialisten die Vernichtung des europäischen Judentums organisierten.<br />

Zur unendlichen Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen es möglich gewesen wäre,<br />

den Holocaust aufzuhalten, ob <strong>und</strong> welchen Widerstand Juden überhaupt hätten leisten können,<br />

gehören auch die schmerzlichen Tatsachen über die jüdische Mittäterschaft. Schur erkannte,<br />

dass die Taktik von Gens, den Deutschen immer wieder aufs neue h<strong>und</strong>erte <strong>und</strong> tausende<br />

von Menschen auszuliefern, um die Übrigen zu retten, verfehlt war. Der <strong>Ghetto</strong>leiter<br />

habe es nicht nur versäumt, die Juden im <strong>Ghetto</strong> für den Kampf gegen den Feind vorzubereiten,<br />

er habe sie sogar geschwächt.<br />

Im September 1943 endete die Geschichte des <strong>Wilna</strong>er <strong>Ghetto</strong>s. <strong>Ghetto</strong>leiter Gens wurde vom<br />

Chef der Gestapo, Rolf Neugebauer, eigenhändig erschossen, <strong>und</strong> die letzten sechstausend<br />

<strong>Ghetto</strong>insassen wurden zur Hinrichtung gefahren. Mehr als siebzigtausend Juden hatten<br />

die Nazis in zwei Jahren ermordet. Lediglich die dreitausend im <strong>Arbeit</strong>sblock hatten bis zu<br />

diesem Zeitpunkt überlebt. Dort schrieb Schur auch seine Aufzeichnungen nieder, verborgen<br />

in einem Winkel der Werkstätte, abends im Dunkeln in der Wohnung oder auf dem Klo. Eine<br />

litauische Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> Untergr<strong>und</strong>kämpferin schmuggelte die kleinen Schulhefte aus dem<br />

<strong>Ghetto</strong> hinaus <strong>und</strong> versteckte sie in der Universität.<br />

Im März 1944 holten die Nazis die letzten Kinder ab, unter ihnen Schurs dreizehnjähriger<br />

Sohn Aron. Auf Drängen ihres Vaters floh die neunzehnjährige Miriam unter großer Gefahr<br />

aus dem <strong>Arbeit</strong>sblock. Sie lebte bis zum Einmarsch der sowjetischen Armee im Juli 1944 versteckt<br />

in <strong>Wilna</strong>. Ihre Mutter wurde eine Woche vor der Befreiung der Stadt erschossen. Die<br />

Aufzeichnungen ihres Vaters enden im April 1944. Er wurde nach Riga <strong>und</strong> später ins KZ<br />

Stutthof transportiert. Im Dezember 1944 ertränkten ihn die Nazis zusammen mit h<strong>und</strong>erten<br />

anderen KZ-Gefangenen im Meer.<br />

Das Manuskript von Grigorij Schur wurde nach dem Krieg gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> im neu gegründeten<br />

jüdischen Museum von <strong>Wilna</strong> aufbewahrt. Doch 1949 lösten die sowjetischen<br />

Machthaber das Museum auf <strong>und</strong> machten sich ihrerseits daran, jüdische Schriften zu vernichten<br />

oder auf diverse Archive zu verteilen. Schurs Aufzeichnungen verschwanden im Museum<br />

der Geschichte der Revolution. Man weigerte sich, sie seiner Tochter auszuhändigen.<br />

Eine Museumsmitarbeiterin fertigte aber heimlich ein Typoskript für sie an.<br />

Weil sich die antijüdische Politik in der Sowjetunion verschärfte, verließ Miriam<br />

Povimonskaja-Schur 1960 mit ihrem Mann <strong>und</strong> ihren Kindern <strong>Wilna</strong> <strong>und</strong> wanderte nach Israel<br />

aus. 1994 hat sie zum ersten Mal wieder ihre Heimatstadt <strong>Wilna</strong> besucht, vor kurzem ist sie<br />

mit ihrem Mann zum ersten Mal auch in Auschwitz gewesen. Aber sie habe es dort nicht lange<br />

ausgehalten, sagt sie. In Auschwitz ist ihr kleiner Bruder umgekommen, wie sie heute<br />

weiß.<br />

1989 konnte auch Wladimir Porudominski aus der Sowjetunion ausreisen. Zum ersten Mal<br />

sah er nun die Aufzeichnungen seines Onkels. Porudominski machte sich an die Bearbeitung<br />

des in Russisch geschriebenen Manuskripts. Doch erst in den Neunzigerjahren, nachdem Litauen<br />

unabhängig geworden war, wurde es möglich, das Typoskript mit dem Original zu vergleichen,<br />

das heute im litauischen Staatsarchiv in <strong>Wilna</strong> liegt.<br />

Miriam <strong>und</strong> Wladimir hatten große Schwierigkeiten, für das Tagebuch einen Verlag zu<br />

finden. Wladimir versuchte es in Russland <strong>und</strong> in Deutschland. Nichts. Schließlich fanden sie<br />

den niederländischen Verleger Jan Mets, <strong>und</strong> der stellte schließlich die Verbindung zum<br />

Deutschen Taschenbuch Verlag her. In Russland erschien es im vergangenen Jahr, doch in Israel<br />

ist es bisher nicht gelungen, das Buch zu veröffentlichen.<br />

Miriam hat sich an das Haus der <strong>Ghetto</strong>kämpfer bei Akko gewandt <strong>und</strong> an die Gedenkstätte<br />

Jad Vaschem, beide Male ohne Erfolg. Vielleicht spielt eine Rolle, dass in Jad Vaschem die<br />

Figur des <strong>Ghetto</strong>leiters Gens, den Schur einmal den „<strong>Ghetto</strong>diktator“ nannte, positiv beurteilt<br />

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