Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus
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durchlitt das Getto in <strong>Wilna</strong> (jiddisch: Wilne), floh im Krieg nach Moskau <strong>und</strong> lebt seit 1947<br />
in Israel. Er gilt als einer der wichtigsten Poeten jiddischer Zunge <strong>und</strong> als Bewahrer der im<br />
Holocaust fast ausgelöschten Sprache – nicht nur durch sein literarisches Werk, sondern auch<br />
durch die Herausgabe der Zeitschrift „Di goldene kejt“ („Die goldene Kette“). Das zwischen<br />
1949 <strong>und</strong> 1995 erscheinende Blatt war lange das wichtigste Organ der jiddischen Kultur. Am<br />
Mittwoch ist er im Alter von sieben<strong>und</strong>neunzig Jahren in Tel Aviv gestorben.<br />
Drei Neuerscheinungen versammeln Texte des hierzulande kaum bekannten Autors. Im Ammann<br />
Verlag erscheint das Tagebuch „Wilner Getto 1941–1944“ <strong>und</strong> der Gedichtband „Gesänge<br />
vom Meer des Todes“, zwei erschütternde Bücher. Fünf Jahrzehnte von Sutzkevers<br />
Schaffen umfasst hingegen der Lyrik- <strong>und</strong> Prosaband „Geh über Wörter wie über ein Minenfeld“<br />
aus dem Campus-Verlag.<br />
Sibirien als Sehnsuchtsort<br />
Schon im Ersten Weltkrieg musste Sutzkevers Familie aus der Heimatstadt fliehen: Die Juden<br />
Smorgons wurden beschuldigt, für das Deutsche Reich zu spionieren. Man ließ sich in Omsk<br />
nieder, wo der Vater im Alter von nur dreißig Jahren starb. Trotz Hunger <strong>und</strong> Kälte sollte die<br />
kristalline Schönheit Sibiriens für den Lyriker später zum Inbegriff seiner poetischen „Sehnsucht“<br />
werden. 1920 kehrte die Mutter mit den Kindern nach <strong>Wilna</strong> zurück, das als Zentrum<br />
einer reichen jüdischen Tradition <strong>und</strong> Kultur den Ehrentitel „Jerusalem des Nordens“ trug.<br />
R<strong>und</strong> ein Drittel der Bewohner dieser Stadt, in der Sozialismus <strong>und</strong> Zionismus auf eine lebendige<br />
jiddische Kunst- <strong>und</strong> Wissenschaftsszene trafen, waren damals Juden. Seit 1926 befand<br />
sich auch das in Berlin gegründete YIVO, das Jiddische Wissenschaftliche Institut, an<br />
dem Sutzkever Studien zur Literatur trieb, mit allen seinen Abteilungen in <strong>Wilna</strong>. 1934 wurde<br />
der junge Lyriker Mitglied der sozialrevolutionären Dichtergruppe „Jung-Vilne“, die ihn zunächst<br />
wegen seines expressiven Individualismus abgelehnt hatte. 1937 schließlich erschien<br />
auf Vermittlung Joseph Roths, dem er zufällig in <strong>Wilna</strong> begegnet war, in Polen sein erster<br />
Gedichtband, „Lider“ („Lieder“).<br />
1940 verleibte die Rote Armee Litauen der Sowjetunion ein; im Sommer 1941 begann mit der<br />
Okkupation durch die deutsche Wehrmacht der Untergang des jüdischen <strong>Wilna</strong>. „Als ich am<br />
22. Juni frühmorgens das Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen:<br />
ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das<br />
deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen“, schreibt Sutzkever zu Beginn<br />
seiner Chronik. Innerhalb von nur sechs Monaten wurden Zehntausende von litauischen Juden<br />
in Ponar südwestlich von <strong>Wilna</strong> ermordet. Gleichzeitig richteten die Deutschen in der Stadt<br />
zwei Gettos ein. Eine beklemmende Vision von Untergang <strong>und</strong> Mord zeichnet das Gedicht<br />
„Die erste Nacht im Getto“: „Können Schiffe auf festem Land versinken? / Ich spür. Es sinken<br />
Schiffe unter mir, nur die Segel, / geflickte <strong>und</strong> zertretene, wälzen sich oben: / die grünen<br />
erstarrten Leiber, auf die Erde gebreitet. / ... In der Rinne spült Regen zu anderer Zeit, / ein<br />
linder, weicher, segnender. Mütter stellen / Eimer hin für die süße Wolkenmilch, / der Töchter<br />
Haar zu waschen, dass ihre Zöpfe glücklich leuchten. / Jetzt sind da keine Mütter, keine Töchter,<br />
kein Regen, / nur Ziegel einer Ruine, nur die klagenden Ziegel, / mit Stücken Fleisch ihrer<br />
Wände herausgerissen.“<br />
Dem Leid eine Stimme geben<br />
Selbst wer die Geschichte der Schoa zu kennen meint, erschauert über den Vernichtungswillen<br />
der deutschen Besatzer. Die furchtbaren Geschehnisse notierte Sutzkever, wenn er wie die<br />
anderen Gettobewohner bei den „Aktionen“ in winzigen Verstecken, sogenannten „Malinen“,<br />
auf Dachböden <strong>und</strong> in Kellern, ausharrte. Ermordet wurden seine Mutter, deren Schuh er eines<br />
Tages in einem Wagen voller Raubgut entdeckte, <strong>und</strong> sein neugeborener Sohn, der gleich<br />
nach der Geburt vergiftet wurde. Doch auch die „Chapunes“, die litauischen Häscher,<br />
schreckten vor keiner Bosheit zurück. Berichtet wird die Geschichte eines jüdischen Mannes,<br />
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