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Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus

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erschienen schauerliche Artikel über Juden. Das ganze Gift der deutschen Propaganda, seit<br />

langen Jahren vorbereitet, drang in die hiesige Presse, wo faschistische Agenten mitarbeiteten<br />

– deutsch-litauische Nationalisten.“ Sutzkever setzt seine Aufzeichnungen dagegen. Das<br />

sprachliche Experiment interessiert ihn nicht mehr, nur noch der treffendste Ausdruck für das,<br />

was geschieht, was er sieht, was er hört, was er durchleidet <strong>und</strong> was andere ertragen müssen:<br />

Abraham Sutzkever wird mit seiner Prosa zum Chronisten der Unterdrückung <strong>und</strong> Vernichtung<br />

der Juden von Vilnius. Und während viele um ihn herum noch hoffen, die kulturvollen<br />

Deutschen könnten keine Schlächter sein, während sie den Berichten von Massen-Erschießungen<br />

im Wald von Ponar (Panerai) nicht glauben <strong>und</strong> nur an <strong>Arbeit</strong>slager oder Haft der<br />

Vermissten denken wollen, lässt er sich nicht einlullen, sondern trägt die Fakten zusammen.<br />

Er lässt Zeugen sprechen <strong>und</strong> berichtet aus eigenem Erleben, wie seine Mutter an den Haaren<br />

über die Straße geschleift wird oder wie er ins Krankenhaus kommt, um seine Frau <strong>und</strong> seinen<br />

Sohn nach der Entbindung zu begrüßen: Da ist das Neugeborene bereits tot, denn Juden war<br />

es nicht erlaubt, Kinder zu bekommen. Er legt Zeugnis ab vom Widerstand, berichtet von<br />

Bauern, die Juden verstecken <strong>und</strong> vom Waffenschmuggel ins Getto, wo die Bewohner versuchen,<br />

mit einem Aufstand den Nazis zu trotzen. Dennoch: „Am 23. September 1943 erfolgte<br />

die endgültige Liquidierung des Wilner Gettos.“ In Ponar erlassen die Deutschen dann den<br />

Befehl, die Leichen der mehr als 100.000 Ermordeten zu verbrennen.<br />

Abraham Sutzkever <strong>und</strong> seiner Frau gelingt die Flucht. Der sowjetische Schriftsteller Ilja<br />

Ehrenburg holt ihn nach Moskau <strong>und</strong> bittet ihn, an einem Schwarzbuch über die Unterdrückung<br />

<strong>und</strong> Vernichtung der Juden mitzuarbeiten. Der Auftrag wird bald wieder zurückgezogen.<br />

Dennoch erscheinen Sutzkevers Getto-Aufzeichnungen 1946 in Moskau <strong>und</strong> kurz darauf<br />

– ungekürzt – auch in Paris.<br />

Jetzt erst, siebzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, liegt Abraham Sutzkevers<br />

Hauptwerk auf Deutsch vor. Der Leipziger Übersetzer Hubert Witt hat es akribisch aus dem<br />

Jiddischen übertragen <strong>und</strong> mit einem Nachwort versehen, wohl wissend, dass Sutzkever lange<br />

nicht an einer Ausgabe in der Sprache der Mörder interessiert war. Immerhin gab es häppchenweise<br />

Publikationen seiner Gedichte <strong>und</strong> Stücke in den letzten Jahren. Doch erst der ambitionierte,<br />

sorgsam gestaltete Doppelband mit den Aufzeichnungen aus dem "Wilner Getto<br />

1941-1944" <strong>und</strong> den Gedichten „Gesänge vom Meer des Todes“ kann der Leistung des Dichters<br />

wirklich gerecht werden, zeigt die Kombination von beiden Büchern doch, wie wichtig<br />

dem Autor neben dem reporterhaften Augenzeugenbericht die sprachliche Bewältigung des<br />

Erlebten war.<br />

Denn während er im Getto-Bericht die neuesten Maßnahmen der Deutschen aufzählt, schreibt<br />

er etwa im Poem „Drei Rosen“ 1942: „Die Zeit auf meiner Zunge hat den Sinn verloren.“ Das<br />

klingt nach Resignation. Später, im Juli 1944, als von den Getto-Bewohnern nur noch ein<br />

kleines Häuflein übrig ist, packt er das Grausame in die scheinbar harmlosen, liedhaften Verse<br />

des Gedichts „Erfrorene Juden“: „Sahst du auf Feldern, vereist <strong>und</strong> verschneit,/ erfrorene<br />

Juden aufgereiht?/ ohne Atem, marmorn, in blauem Licht./ Doch alle Leiber – tot sind sie<br />

nicht./ Ob auch erfroren, es funkelt der Geist/ wie ein goldener Fisch, in der Woge vereist.“<br />

Der Zeitzeuge Abraham Sutzkever trat am 27. Februar 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal<br />

in Nürnberg auf. In einem kurzen Gedicht, das er nach seiner Aussage schrieb, heißt<br />

es „Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden,/ wenn Gott zu schwach ist für<br />

Gerechtigkeit.“ Im Jahr darauf wanderte er nach Palästina aus. Jahrzehntelang gab er eine<br />

Zeitschrift für jiddische Literatur heraus. Heute lebt er in einem Pflegeheim in Tel Aviv.<br />

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