Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus
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<strong>Arbeit</strong>spapiere. Essayistische Einschübe – etwa über den Protest litauischer Bischöfe, die zur<br />
Rettung der Juden auffordern, wechseln mit Zeugenberichten jener, die durch puren Zufall eine<br />
Massenerschießung überlebten.<br />
Sutzkever selbst überlebt – wie er sarkastisch anmerkt – im „Königreich des Alfred Rosenberg“<br />
– in einem deutschen Kunstraubkommando. Und – er beteiligt sich an der „Kulturarbeit“<br />
des Gettos: Es gibt Vorträge über Werfels „Musah Dag“, Lesungen von Stefan Zweigs<br />
Prosa, Konzerte. Selbst Ausstellungen finden im Getto statt – hinter einem Bild von Marc<br />
Chagall haben die Partisanen ein Maschinengewehr versteckt.<br />
Flucht zu den Partisanen<br />
1943 gelingt Sutzkever (gemeinsam mit seiner Frau) die Flucht in die Wälder zu den Partisanen.<br />
Lakonisch heißt es.<br />
Wir gingen zu den Bauern, nahmen ihnen die Waffen ab, <strong>und</strong> mit diesen deutschen Gewehren<br />
haben wir Deutsche getötet.<br />
So gelungen das Porträt von Izik Witenberg, des Anführers der Aufständischen im Getto, so<br />
klischeehaft die Darstellung der Vernichtung <strong>und</strong> Auflösung des Gettos, wenn es über den<br />
Nazi Kittel, einen ehemaligen Jazzmusiker, der während des Gemetzels seelenruhig Klavier<br />
spielt, heißt:<br />
Kitel zog seinen Revolver, <strong>und</strong> während seine eine Hand den Jungen erschoss, hört seine andere<br />
nicht zu spielen auf.<br />
So sarkastisch das klingen mag: die unüberbietbare Brutalität der mordenden Nazis wurde in<br />
zahlreichen sowjetischen Darstellungen noch zusätzlich „ausgeschmückt“.<br />
„Stalinistische“ Bekenntnisse<br />
Sutzkevers Bericht wäre aber nicht nur an dieser Stelle kommentarbedürftig: Noch problematischer<br />
sind seine – wie auch immer zeitbedingten – „stalinistischen“ Bekenntnisse: „Ende<br />
Oktober 1939, nachdem die Rote Armee die Westgebiete von Weißrußland befreit hatte“,<br />
heißt es an einer Stelle, an der die Rede von der sowjetischen Besetzung Polens im Gefolge<br />
des Hitler-Stalin-Pakts ist. (Das heutige Vilnius war damals polnisch – zwei Wochen nachdem<br />
Hitler-Deutschland Polen angegriffen hatte, holte sich Stalin seinen vertragsmäßigen<br />
Teil.)<br />
Denkt man an die kürzlich erfolgte Erklärung der OSZE, in der „Nationalsozialismus“ <strong>und</strong><br />
„Stalinismus“ gleichgesetzt wurden, wird die Geschichte vollends konfus. Der neu-europäischen<br />
Sprachreglung zufolge wäre Sutzkever gleichermaßen Opfer <strong>und</strong> Täter! – als Partisan,<br />
der die Rote Armee als Befreier von Vilnius bejubelte.<br />
Sachliche Texte zum Holocaust<br />
Mit der Roten Armee kommt Sutzkever jedenfalls im Sommer 1944 nach Wilne. Seine Beschreibung<br />
der Scheiterhaufen, auf denen die Nazis sämtliche Spuren ihrer Opfer beseitigen<br />
hatten wollen, gehört zu den bedeutendsten Texten über den Holocaust. Deren Sachlichkeit ist<br />
an Grausamkeit nicht mehr zu überbieten. Von den ausgegrabenen Leichen durfte nur als „Figuren“<br />
gesprochen werden - dementsprechend gab es dort „Figurengräber“, „Figurenträger“,<br />
„Holzbeschaffer“, „Feuermeister“, „Aschensieber“, <strong>und</strong> „Spurenglätter“.<br />
Wo ist die Menschenasche? fragte ich. Dogim, der Erbauer des Ponarer Tunnels, führt mich<br />
zu einem Graben, <strong>und</strong> mit einem Stock beginnt er die Erde aufzuscharren. Unter der obersten<br />
Schicht gelben Sandes gewahrt man eine graue Masse. Sie ist klebrig grau. Ich nehme etwas<br />
Asche in die Hand <strong>und</strong> drücke sie ans Herz.<br />
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