Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus
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chem Tag <strong>und</strong> an welchem Ort wie viele jüdische Männer, Frauen <strong>und</strong> Kinder umgebracht<br />
worden waren. Am Ende erscheint die Summe „137.346“, <strong>und</strong> der Berichterstatter vermerkt<br />
stolz: „In Litauen gibt es keine Juden mehr, außer den <strong>Arbeit</strong>sjuden incl. ihrer Familien.“ Insgesamt<br />
verloren 94 Prozent der über 200.000 litauischen Juden im Zweiten Weltkrieg<br />
ihr <strong>Leben</strong> – mehr als in jedem anderen von der Wehrmacht besetzten Land.<br />
Bis heute gibt es keine umfassende historische Darstellung des entsetzlichen Geschehens. In<br />
Litauen war das Thema lange Zeit ein Tabu – kein W<strong>und</strong>er, denn die deutschen Mordkommandos<br />
hatten gerade in der litauischen Bevölkerung viele eifrige Helfer gef<strong>und</strong>en. In<br />
manchen Orten fanden bereits vor dem Einmarsch der Wehrmacht Pogrome statt. Als sich<br />
Präsident Algirdas Brasauskas 1995 vor der Knesset in Jerusalem für die Beteiligung litauischer<br />
Milizen am Judenmord entschuldigte, erntete er im eigenen Land viel Kritik. Denn die<br />
meisten Litauer sehen sich immer noch ausschließlich als Opfer – nicht nur der dreijährigen<br />
deutschen, sondern mehr noch der fast fünfzigjährigen sowjetischen Besetzung. Erst seit wenigen<br />
Jahren haben jüngere litauische Historiker damit begonnen, sich dem brisanten Thema<br />
der Kollaboration zuzuwenden.<br />
Auch hierzulande ist das, was zwischen 1941 <strong>und</strong> 1944 in Litauen geschah, erst jüngst ins öffentliche<br />
Bewusstsein getreten. Im Herbst 2000 erschienen die Aufzeichnungen der Helene<br />
Holzman über die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Kaunas, niedergeschrieben unmittelbar<br />
nach der Befreiung durch die Rote Armee Anfang August 1944 (ZEIT Nr. 47/00). Zu<br />
Recht erhielt die 1968 gestorbene Autorin dafür posthum den Geschwister-Scholl-Preis der<br />
Stadt München. Nun erscheint (in einer neuen Ausgabe) das Tagebuch der Mascha Rolnikaite<br />
– neben dem Tagebuch Hermann Kruks (das Joshua Sobol als Vorlage für sein Stück <strong>Ghetto</strong><br />
aus dem Jahre 1983 diente) wohl das wichtigste Zeugnis, das sich über den Untergang der Juden<br />
in <strong>Wilna</strong>, der größten jüdischen Gemeinde Litauens, erhalten hat. Denn die 1927 geborene<br />
Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts, die heute in St. Petersburg lebt, verbindet scharfe<br />
Beobachtungsgabe <strong>und</strong> erzählerisches Talent mit dem, was man Empathie nennt, also der Fähigkeit,<br />
sich in andere Menschen hineinzuversetzen <strong>und</strong> ihrem Leiden eine Stimme zu geben.<br />
Mit dem Tagebuch hat es freilich eine eigentümliche Bewandtnis, über die Marianna<br />
Butenschön in ihrem Vorwort Auskunft gibt. Von ihren ursprünglichen Aufzeichnungen<br />
konnte Mascha Rolnikaite nur einen Bruchteil ins Kriegsende hinüberretten. Nur wenige Tage<br />
nach ihrer Befreiung im März 1945 begann sie mit der Wiederherstellung des Manuskripts,<br />
<strong>und</strong> ihr kam dabei zustatten, dass sie, einem Rat ihrer Mutter folgend, alle Eintragungen auswendig<br />
gelernt <strong>und</strong> im Gedächtnis gespeichert hatte. Bereits im Mai 1945, unmittelbar nach<br />
ihrer Rückkehr nach <strong>Wilna</strong>, schloss sie die Niederschrift ab. An eine Veröffentlichung dachte<br />
sie zunächst aber nicht; sie wäre wohl auch in der spätstalinistischen Ära, als wieder antisemitische<br />
Stimmungen geschürt wurden, kaum möglich gewesen.<br />
„Die Deutschen markieren uns wie Schafe“<br />
Erst Jahre nach Stalins Tod 1953, mit der nun einsetzenden „Tauwetter“-Periode, nahm sie<br />
sich ihre Notate wieder vor, übersetzte sie vom Jiddischen ins Litauische <strong>und</strong> bot sie einem<br />
Verlag in <strong>Wilna</strong> zur Publikation an. Doch die Wächter über die reine Parteilinie beim ZK der<br />
litauischen KP machten ideologische Bedenken geltend. Die Autorin lasse die richtige marxistische<br />
Klassenposition vermissen, beurteile den <strong>Wilna</strong>uer Judenrat zu positiv, spreche immer<br />
nur von „den Deutschen“, statt von „Hitlerdeutschen“ et cetera. Erst im November 1963<br />
konnte das Buch in einer von der Zensur genehmigten Fassung erscheinen; 1965 folgte eine<br />
Übersetzung ins Russische, 1967 eine deutsche Ausgabe für die DDR. Nun endlich liegt zum<br />
ersten Mal der ursprüngliche Text aus dem Frühjahr 1945 in einer unzensierten, von Dorothea<br />
Greve hervorragend aus dem Jiddischen übertragenen Fassung vor.<br />
Man hat Mascha Rolnikaite die „litauische Anne Frank“ genannt, doch ist dieser Vergleich<br />
nicht ganz zutreffend. Denn es handelt sich bei ihrem Werk eben nicht um das Original-<br />
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