09.10.2013 Aufrufe

Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus

Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus

Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Gebärverbot erlassen. Das Neugeborene wurde mit einer Spritze getötet. Vier Jahre später berichtete<br />

Sutzkever über seine Erlebnisse als Zeuge des sowjetischen Anklägers vor dem Internationalen<br />

Militärgerichtshof in Nürnberg.<br />

Nach seinem mit Bangen erwarteten Auftritt schrieb er in sein Tagebuch: „Auf meinen Lippen<br />

glühen noch die Wörter, die ich herausgeschrien habe ... Mir ist noch schwer, meine Gefühle<br />

abzuwägen. Welches von ihnen ist stärker, das Gefühl der Trauer oder das Gefühl der<br />

Rache? Mir scheint, stärker als beide ist das aufleuchtende, mächtige Gefühl, dass unser Volk<br />

lebt, seine Henker überlebt hat, <strong>und</strong> keine finstere Macht ist imstande, uns zu vernichten.<br />

Kurz nach dem Tod des Sohnes wurde Sutzkevers Mutter bei einer Razzia erschossen.<br />

Sutzkever selbst <strong>und</strong> seine Frau überleben wie durch ein W<strong>und</strong>er.<br />

Der junge <strong>und</strong> der alte Mann. Abraham Sutzkever, bewaffnet als sowjetischer Soldat um 1944/45,<br />

entspannt in Israel. – Foto: Ammann Verlag<br />

Sutzkever wurde 1913 im damals litauischen <strong>und</strong> heute weißrussischen Smorgon geboren. Als<br />

er zwei Jahre alt war, wurde die Familie zusammen mit eineinhalb Millionen Leidensgenossen<br />

nach Sibirien verbannt. Die Russen sahen in den Ostjuden „deutsche Spione“, die im Ersten<br />

Weltkrieg gefährlich werden konnten. Nach dem Tod des Vaters kehrte die Familie nach<br />

<strong>Wilna</strong> zurück. Als Sutzkever zwölf Jahre alt ist, stirbt die hochbegabte ältere Schwester an einer<br />

verschleppten Meningitis. Sutzkever beschließt, an ihrer Stelle sein <strong>Leben</strong> der Poesie zu<br />

weihen. Drei Jahre später lernt er Freydke kennen, die seine lebenslange Gefährtin wird.<br />

<strong>Wilna</strong> (Vilnius), das „Jerusalem des Nordens“, war seit dem 17. Jahrh<strong>und</strong>ert ein Zentrum jüdischer<br />

Gelehrsamkeit. Fünf bedeutende Bibliotheken gab es hier, darunter die beiden größten<br />

jüdischen Bibliotheken Europas. 1925 wurde das „Yidisher Visnshaftlikher Institut“ (YIVO)<br />

gegründet. Hier wurde die Wissenschaft vom Judentum erstmals in der Sprache des Judentums<br />

betrieben.<br />

Das Gegenstück zum YIVO ist die Hebräische Universität Jerusalem, die ebenfalls 1925 ihren<br />

Betrieb aufnahm <strong>und</strong> erstmals Lehrveranstaltungen auf Hebräisch anbot. Das YIVO hatte bald<br />

Verbindungen in ganz Europa, zu seinen korrespondierenden Mitgliedern gehörten unter anderen<br />

Sigm<strong>und</strong> Freud, Albert Einstein <strong>und</strong> Marc Chagall. Sutzkever studierte am YIVO bei<br />

dem bedeutenden Jiddisten Max Weinreich, der nach 1940 das Institut in New York neu aufbaute,<br />

wo es noch heute seinen Sitz hat.<br />

1932 veröffentlichte Sutzkever erste Gedichte, drei Jahre später erschien sein erstes Buch<br />

„Lider“ (Lieder). Er galt als Individualist unter den jungen Schriftstellern in <strong>Wilna</strong>. Seine Gedichte<br />

sind von wilder Schönheit <strong>und</strong> großer poetischer Kraft, einige der frühen sind in die<br />

vorliegende Auswahl aufgenommen, z. B. „Krieg“ von 1939. Die zweite Strophe lautet: „Und<br />

bleiben wird nur ein Poet – doch er, / ein wilder Shakespeare, singt voll Kraft <strong>und</strong> Mutwill: /<br />

Geist Ariel, bring das Schicksal, das mein Blut will, / <strong>und</strong> speit die toten Städte wieder her.“<br />

Am 22. Juni 1941 erfolgte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, zu der damals auch Litauen<br />

gehörte. Sutzkever notierte: „Als ich am 22. Juni frühmorgens mein Radio anschloss, da<br />

sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher<br />

Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen<br />

69

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!