Ghetto Wilna - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus
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sich nicht mehr wie Schafe zur Schlachtbank führen zu lassen. Im Frühjahr 1942 erfährt Mascha<br />
Rolnikaite, dass sich die Widerstandsgruppen zu einer Vereinigten Partisanen-<br />
Organisation (FPO) zusammengeschlossen haben. „Doch darüber darf nicht gesprochen werden.<br />
Mama hat mir sogar verboten, es aufzuschreiben.“ Von einer geheimen Bewaffnung ist<br />
die Rede <strong>und</strong> davon, dass immer mehr Mitglieder der Untergr<strong>und</strong>organisation sich den sowjetischen<br />
Partisanen in den Wäldern anschließen. Nach der Kriegswende von Stalingrad<br />
1942/43 wächst der Widerstand. Die <strong>Ghetto</strong>insassen, heißt es, seien „keine gehorsamen, eingeschüchterten,<br />
passiven Opfer mehr“: „Jetzt wehren sich alle, so gut sie können.“<br />
Am 23. September 1943 wird das <strong>Wilna</strong>er <strong>Ghetto</strong> aufgelöst. Für Mascha Rolnikaite wird dieser<br />
Tag zum Trauma. Denn er bedeutet die gewaltsame Trennung von ihrer Mutter <strong>und</strong> ihren<br />
beiden jüngeren Geschwistern. Eine herzzerreißende Szene: „,Mama!‘, schreie ich, so laut ich<br />
kann. ,Komm du zu mir!‘ Sie schüttelt nur den Kopf <strong>und</strong> ruft mit einer seltsam heiseren<br />
Stimme: ,Lebe, mein Kind! Wenigstens du sollst leben! Nimm Rache für die Kleinen!‘ …<br />
Man hat sie beiseite gedrängt. Ich sehe sie nicht mehr.“ Sie wird sie nicht wiedersehen.<br />
Zusammen mit 1700 Überlebenden des <strong>Ghetto</strong>s wird Mascha ins Lager Kaiserwald nach Lettland<br />
transportiert, von dort aus kommt sie ins Lager Strasdendorf in einem Vorort von Riga.<br />
Hier muss die Sechzehnjährige in einem Steinbruch schwerste körperliche <strong>Arbeit</strong> verrichten –<br />
<strong>und</strong> das bei völlig unzureichender Ernährung, dürftiger Bekleidung, Bestrafungen aus nichtigstem<br />
Anlass <strong>und</strong>, das Schlimmste, st<strong>und</strong>enlangem Appellstehen: „Wie Schaufensterpuppen<br />
müssen wir in eisiger Kälte ausharren, ohne uns zu rühren.“ Im Ersinnen immer neuer Schikanen<br />
<strong>und</strong> Torturen erweisen sich SS-Männer <strong>und</strong> SS-Frauen als außerordentlich erfinderisch,<br />
<strong>und</strong> immer wieder stellt Mascha Rolnikaite die Frage, die bis heute einer Antwort harrt: „Woher<br />
dieser wilde Hass auf uns?“<br />
Im Sommer 1944, als die Front näher rückt, wird das Lager Strasdendorf evakuiert. Die letzte<br />
Station ist das KZ Stutthof bei Danzig. Hier erlebt Mascha Rolnikaite im Winter 1944/45 eine<br />
wahre Hölle. Es gibt kein Wasser mehr, kaum noch Verpflegung; schließlich bricht eine Typhusepidemie<br />
aus; täglich sterben h<strong>und</strong>erte von Häftlingen; vor dem Krematorium türmen<br />
sich die Leichen. Mascha überlebt auch diesen Schrecken, doch ist sie so geschwächt, dass ihre<br />
Füße sie kaum mehr tragen, als Stutthof im Januar 1945 geräumt wird. Mit dem Bericht<br />
über den Todesmarsch endet das Tagebuch. Auf beklemmende Weise wird deutlich, wie das<br />
mörderische SS-System selbst noch im Chaos des sich auflösenden „Dritten Reiches“ funktionierte.<br />
Erbarmungslos treiben die Begleitmannschaften die total entkräfteten Häftlinge voran.<br />
Wer nicht mehr laufen kann, wird erschossen. Endlich, Anfang März 1945, befreit eine<br />
Vorhut der Roten Armee die Überlebenden.<br />
„Darum muss alles, was hier geschieht, im Tagebuch festgehalten werden“, notierte die gerade<br />
Vierzehnjährige wenige Wochen nach dem deutschen Einmarsch, als das Morden bereits in<br />
vollem Gange war. „Wenn ich am <strong>Leben</strong> bleibe, werde ich selber erzählen, wenn nicht – werden<br />
andere es lesen. Aber erfahren sollen sie es! Unbedingt!“ Mascha Rolnikaite blieb am <strong>Leben</strong>,<br />
<strong>und</strong> so konnte sie beides – als Zeitzeugin (bis heute) erzählen <strong>und</strong> uns zugleich ein Buch<br />
hinterlassen, das sie zur Chronistin einer großen Katastrophe werden ließ: der Vernichtung<br />
des „litauischen Jerusalems“.<br />
Mascha Rolnikaite: Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941-1945.<br />
Aus dem Jiddischen von Dorothea Greve. Mit einem Vorwort von Marianne Butenschön.<br />
Kindler Verlag, Berlin 2002, 288 S.; 19,90 Euro<br />
(c) DIE ZEIT 41/2002<br />
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