Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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24 Christiane Lemke<br />
mation durch mehr Bürgerbeteiligung nicht<br />
ausschließlich auf parlamentarische Repräsentation,<br />
die Lobbyarbeit bei der Kommission<br />
oder die Rechtsetzungsverfahren im Europäischen<br />
Gerichtshof beziehen. Eine eng fokussierte<br />
Parlamentarisierungsstrategie, die Komitologie<br />
sowie deliberative Verfahren in den Gerichten<br />
lassen die Demokratie in der EU blutleer<br />
erscheinen, wenn sie von der Beteiligung<br />
des ,Demos', der Bürger, im Mehrebenensystem<br />
der Union absehen. Hier setzt nun die<br />
Debatte über die Europäische Bürgerschaft ein.<br />
2 Citizenship-Konzeptionen:<br />
Theoretische Ansätze und<br />
institutioneile Entwicklungen<br />
Die gegenwärtige demokratietheoretische Debatte<br />
kreist um ein neues Verständnis von Bürgerschaft,<br />
das dem trans- und supranationalen<br />
Charakter der Union entspricht und in Begriffen<br />
wie ,post-nationale', ,transnationale' oder<br />
fragmentierte' Bürgerschaft transportiert wird.<br />
Kernstück bildet dabei eine über die nationalstaatlichen<br />
Modelle hinausgehende, in der supranationalen<br />
Konstruktion der EU verankerte<br />
Konzeption von .citizenship'. Eine solche Konzeption<br />
ist bislang nur rudimentär vorhanden.<br />
Sie bezeichnet nicht nur einen Rechtsstatus,<br />
sondern einen Prozess, der innerhalb in der<br />
Europäischen Union als kontingenter, dynamischer<br />
Vorgang zu verstehen ist.<br />
Mit dem Vertrag zur Europäischen Union<br />
(1993) wurde erstmals auch die Vorstellung<br />
einer europäischen Unionsbürgerschaft' (European<br />
citizenship') in das europäische Vertragswerk<br />
eingeführt. Im Maastrichter Vertrag<br />
wird ,Citizenship of the Union' vertraglich<br />
rechtsverbindlich festgeschrieben, wobei die<br />
Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedsland der<br />
EU Voraussetzung für die Unionsbürgerschaft<br />
ist. Unionsbürgerschaft ist ein komplementäres<br />
Recht, das nach wie vor an nationale Rege<br />
lungen gebunden ist. Zu den bedeutenden Neuerungen<br />
zählen das Recht, in kommunalen<br />
Wahlen im Land der Residenz (und nicht der<br />
Nationalität) wählen zu können und gewählt<br />
zu werden sowie die Garantien von Freizügigkeit,<br />
Niederlassungsfreiheit und Berufsfreiheit.<br />
Bereits während der Ratifizierung des<br />
Maastrichter Vertrags wurde die Frage aufgeworfen,<br />
inwieweit die Unionsbürgerschaft eine<br />
Neuerung im Sinne einer ,post-nationalen' europäischen<br />
Bürgerschaft darstellt, und inwieweit<br />
sie eine übergreifende supra- bzw. postnationale<br />
Identität fördern kann. Angesichts des<br />
Kernpunkts im Maastrichter-Vertrag - gegenüber<br />
der verbindlichen Festlegung der Wirtschafts-<br />
und Währungsunion standen politische<br />
Gestaltungsaspekte im Hintergrund - sowie<br />
angesichts eines ohne breite Bürgerbeteiligung<br />
zustande gekommenen Verhandlungsprozesses<br />
ist Skepsis angebracht, inwieweit diese Regelungen<br />
über eine europäische Bürgerschaft einen<br />
Durchbruch in der Frage der politischen<br />
Legitimation der EU darstellen. Tatsächlich<br />
sind die Bestimmungen wenig innovativ. Pointiert<br />
wird diese Kritik von Joseph H. H. Weiler<br />
vorgebracht, der argumentiert, dass European<br />
citizenship' vor allem dazu diene, die ,Produktgefälligkeit'<br />
des Vertrages zu erhöhen. 3<br />
Rückblickend lässt sich festhalten, dass die Institutionalisierung<br />
der Bürgerschaft politischrechtlich<br />
wenige Veränderungen mit sich gebracht<br />
hat. Relevant wurde aber die Mobilisierung<br />
von Bevölkerungsgruppen im öffentlichen<br />
Diskurs über den Bürgerstatus und die Bürgerbeteiligung.<br />
Die Verankerung der .European citizenship'<br />
im Maastrichter Vertrag löste in den<br />
Neunzigerjahren eine lebhafte Diskussion über<br />
Inklusion bzw. Reichweite und Bedeutung der<br />
Rechte und Exklusion der nicht-EU Einwohner<br />
aus (vgl. Kymlicka/Norman 1994). Der Diskurs<br />
zeigt, dass sich das Verständnis von<br />
(Staats)Bürgerschaft in vielen Ländern gewan-<br />
Aktive Bürgerschaft und Demokratie in der Europäischen Union 25<br />
delt hat. Das hat dazu geführt, dass die traditionellen<br />
Konzeptionen einer auf die Staatlichkeit<br />
und die eigene Nation bezogenen Bürgerschaft<br />
neu überdacht werden (z.B. Faist 2001).<br />
In dieser Debatte zeigte sich, dass der Transfer<br />
des Konzepts der .Bürgerschaft' (citizenship)<br />
auf die EU-Ebene vor einem grundsätzlichen<br />
konzeptionellen Dilemma steht: (Staatsbürgerschaft<br />
und die daraus abgeleiteten politischen<br />
Rechte sind zunächst Konzepte, die an<br />
die Herausbildung von Nationalstaaten geknüpft<br />
waren. Die politischen Rechte, die mit<br />
dem Status als .Bürger' bzw. .Bürgerin' erworben<br />
wurden, haben sich mit der Etablierung<br />
von Staatlichkeit entwickelt und sind im<br />
Verlauf der Geschichte im Rahmen der Staaten<br />
schrittweise ausgebaut worden: Hervorzuheben<br />
sind die Einführung des allgemeinen<br />
und gleichen Wahlrechts und die Verankerung<br />
des Frauenwahlrechts. Aufgrund der historischen,<br />
regionalen und kulturellen Verschiedenheiten<br />
variieren die Bestimmungen und das<br />
politisch Selbstverständnis über Bürgerrechte<br />
und Staatsbürgerschaft allerdings innerhalb der<br />
Mitgliedsstaaten beträchtlich.<br />
Diese doppelte Schwierigkeit der Vermittlung<br />
nationalstaatlich geprägter, kontingenter Regelungen<br />
mit einem gemeinsamen, europaweiten<br />
und rechtsverbindlichen Verständnis sowie die<br />
Frage der Beziehung zwischen fortbestehenden<br />
nationalen Zugehörigkeiten und der supranationalen<br />
europäischen Rechtsstellung hat<br />
dazu geführt, dass die zunächst positiven, partizipatorischen<br />
Erwartungen bezüglich einer<br />
europäischen Bürgerschaft von kritischen bzw.<br />
skeptischen Positionen abgelöst wurden (Hix<br />
1999). Bereits die unterschiedlichen Auffassungen<br />
von Staatsbürgerschaft in Deutschland<br />
und Frankreich zeigen, wie eng das Verständnis<br />
von Bürgerschaft mit der Entwicklung der<br />
Staatlichkeit verwoben ist (vgl. Brubaker 1992;<br />
Preuß/Everson 1996). Wie komparative Unter<br />
suchungen zeigen, haben unterschiedliche<br />
Rechtstraditionen sowie die Beziehungen zwischen<br />
der konstituierenden Bevölkerung und<br />
dem Territorium eines Staates zu recht verschiedenen<br />
Regelungen über die Staatsangehörigkeit<br />
geführt, die bis in die heutige Zeit<br />
fortwirken (Weil 2001). Für die EU-Ebene sind<br />
diese historisch geprägten, kontextgebundenen<br />
Konzepte nur bedingt anzuwenden. Neuere<br />
Forschungsansätze treten daher für ein inklusives<br />
Bürgerschaftskonzept ein, das auf einer<br />
Entkoppelung von territorial bestimmter Nationalität<br />
und europäischer Bürgerschaft beruht<br />
(Benhabib 1997). Die theoretische Herausforderung<br />
besteht dabei in der doppelten Vermittlung:<br />
zum einen zwischen Staatsangehörigkeit<br />
und Unionsbürgerschaft, zum anderen zwischen<br />
der multiplen und vielfältigen Ausgestaltung<br />
von Bürgerschaftsrechten innerhalb der<br />
Mitgliedsstaaten. Konzepte einer europaweiten<br />
Verallgemeinerung eines Bürgerschafts-<br />
Modus, etwa des (britischen) kontraktuell-liberalen<br />
oder des (französischen) republikanischen<br />
Modells, scheitern an dem prinzipiell<br />
dezentralen, polyarchen europäischen Rechtsregime.<br />
Konzeptionell richtungsweisend ist daher<br />
die Entgrenzung des klassischen Modells<br />
von (Staats)Bürgerschaft; dessen Koppelung<br />
des Bürgerstatus an den Nationalstaat ist mit<br />
der europäischen Integration faktisch überholt.<br />
In der Vorbereitung des EU-Regierungsgipfels<br />
von Amsterdam 1997 wurden verschiedene<br />
Vorschläge zur Ausgestaltung der Unionsbürgerschaft<br />
von Aktions- und Bürgergruppen vorgelegt.<br />
Allerdings wurden keine wesentlichen<br />
Neuerungen in den Vertrag aufgenommen. Eine<br />
Ausnahme bilden die Nichtdiskriminierungsbestimmungen,<br />
die nun über Nationalität hinaus<br />
auch Sexualität, Rasse, Religion, Weltanschauung,<br />
ethnische Herkunft, Behinderung,<br />
sexuelle Ausrichtung und Alter einschliessen.<br />
Ein Grund für die nur zögerlichen Fortschritte<br />
in der Etablierung der Unionsbürgerschaft sind