Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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26 Christiane Lemke<br />
die nationalen Unterschiede und die Wahrung<br />
des Souveränitätsprinzips in Fragen der Staatsangehörigkeit;<br />
Gleiches gilt für Asyl- und Einwanderungsbestimmungen.<br />
Trotzdem lässt sich<br />
in den europäischen Ländern eine Angleichung,<br />
eine .Konvergenz', der nationalen Regelungen<br />
über Staatsangehörigkeit und Zuwanderung in<br />
Europa beobachten (vgl. Weil 2001).<br />
3 Grundrechtscharta und aktive<br />
Bürgerschaft: Jenseits des staatszentrierten<br />
Paradigmas<br />
Mit dem Konzept der .aktiven Bürgerschaft'<br />
sollen im Folgenden vor dem Hintergrund der<br />
Debatte um die institutionellen Reformen der<br />
EU theoretische Überlegungen über die politischen<br />
Bedingungen und Voraussetzungen einer<br />
auch rechtlich fundierten Bürgerbeteiligung<br />
formuliert werden. Die aktive Bürgerschaft<br />
wird dabei konzeptionell als ein Ansatz für die<br />
verbesserte Einflussnahme und Beteiligung von<br />
Bürgerinnen und Bürgern innerhalb der EU<br />
betrachtet. Der Begriff .citizenship' steht dabei<br />
für ein auf einem kontraktuellen Bürgerschaftsmodell<br />
basierenden Verständnis, wie es in politikwissenschaftlichen<br />
Ansätzen vorgeschlagen<br />
wird, um die politische Positionierung von Bür<br />
gern und Bürgerinnen zu bestimmen und Fragen<br />
nach den Rechten, Partizipationsmöglichkeiten<br />
und Bindungen in der EU zu erörtern. 4<br />
Ansatzpunkt für eine Weiterentwicklung des<br />
europäischen Bürgerschaftsverständnis als aktiver<br />
Bürgerschaft ist zunächst der Gedanke<br />
einer universalistischen Rechtskultur. Mit Seyla<br />
Benhabib gehe ich davon aus, dass diese<br />
Rechtskultur zunächst darauf beruht, dass alle<br />
Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte<br />
teilen - ein Gedanke, der bereits bei Kant in<br />
seiner Schrift .Zum ewigen Frieden' mit dem<br />
.Recht auf Weltbürgertum' formuliert wird<br />
(Kant 1995: 433ff). Im Prozess der europäischen<br />
Integration sollten, so schlägt Benhabib<br />
vor, historisch gewachsene, national spezifische<br />
Konzeptionen von (Staats-)Bürgerschaft<br />
durch eine universalistische Rechtskultur, in<br />
der sich die national verschiedenen Auffassungen<br />
auf ein und dieselben Rechtsprinzipien beziehen,<br />
ergänzt werden, um eine europäische<br />
Bürgerschaft im Sinne der aktiven Bürgerschaft<br />
auf verschiedenen Ebenen zu realisieren. Benhabib<br />
knüpft hier u. a. an einen schon bei Hannah<br />
Arendt formulierten Grundgedanken über<br />
.das Recht, Rechte zu haben' an, den Arendt<br />
in ihrer zunehmend kritischen Position gegen-<br />
Aktive Bürqerschaft und Demokratie in der Europäischen Union 27<br />
über der Rolle von Nationalstaaten bei der Sicherung<br />
elementarer Menschenrechte entwickelte<br />
(vgl. Lemke 2001).<br />
Diese Rechtskultur beruht auf einer Entkoppelung<br />
von territorial bestimmter Nationalität und<br />
Bürgerschaft. Konstitutiv hierfür wären zum<br />
einen eine größere innereuropäische Mobilität,<br />
die Stärkung einer europäischen Öffentlichkeit<br />
und letztendlich die Herausbildung einer<br />
.europaweite politische Kultur'. „Ein europäischer<br />
Verfassungspatriotismus muss, anders<br />
als der amerikanische, aus verschiedenen nationalgeschichtlich<br />
imprägnierten Deutungen<br />
derselben universalistischen Rechtsprinzipien<br />
zusammenwachsen" (Habermas 1992: 651).<br />
Benhabib schlägt in diesem Kontext vor, die<br />
Bürgerschaft in Europa mit einer ,enlarged<br />
mentality', einer erweiterten Denkungsart'<br />
(vgl. Hannah Arendt) zu verknüpfen. Diese<br />
schließt die Fähigkeit ein, den Standpunkt des/<br />
der Anderen einzunehmen, Konflikte auszuhandeln<br />
und eigene Überzeugungen vom<br />
Standpunkt universalistischer Grundsätze zu<br />
reflektieren. Diese erweiterte Denkungsart ist<br />
die sine qua non der demokratischen Bürgerschaft<br />
(Benhabib 1998).<br />
Politisch wird die Entwicklung einer gemeinsamen<br />
Rechtskultur durch die Annahme der<br />
Grundrechtscharta während der Regierungskonferenz<br />
in Nizza (2000) deutlich vorangetrieben.<br />
Sie stellt einen bemerkenswerten Fortschritt dar.<br />
Die Charta geht zunächst von bestimmten universellen<br />
Werten (.universal values') der EU<br />
aus, die umfassend in den Abschnitten .Rechte',<br />
,Freiheiten', .Gleichheit', .Solidarität',,Bürgerrechte'<br />
und .Rechtsprinzipien' aufgefächert<br />
werden. Die in Abschnitt V .Bürgerrechte' enthaltenen<br />
Prinzipien beinhalten:<br />
• das Wahlrecht für das Europa-Parlament<br />
(Art. 39),<br />
• das Wahlrecht in kommunalen Wahlen innerhalb<br />
der Union (Art. 40),<br />
• das Recht auf gute Verwaltung (Art. 41),<br />
• das Informationsrecht bzw. das Recht, Dokumente<br />
der EU einzusehen (Art. 42),<br />
• die Einrichtung eines Ombudsmann (Art 43),<br />
• das Petitionsrecht für das Europa-Parlament<br />
(Art. 44),<br />
• die Bewegungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit<br />
(Art. 45),<br />
• diplomatischen Schutz. (Art. 46).<br />
Im Unterschied zur staatszentrierten europäischen<br />
Unionsbürgerschaft (.European citizenship'),<br />
wie sie im Maastrichter Vertrag verankert<br />
ist, bietet die Grundrechtscharta Ansatzpunkte<br />
für die Weiterentwicklung eines aktiven<br />
Bürgerschaftskonzepts. Der Katalog der<br />
Rechte ist erweitert worden; die Artikel über<br />
das Informationsrecht (42), den .Ombudsmann'<br />
(43) und das Petitionsrecht (44) richten sich<br />
direkt an eine Beteiligung bzw. kennzeichnen<br />
Bürgerrechte, die über Wahlen hinausgehen.<br />
Das Verständnis von europäischen Bürgerrechten<br />
bzw. auf die EU bezogenen Rechten geht<br />
über die staatszentrierte, konventionelle Engführung<br />
im Maastrichter Vertrag hinaus und<br />
enthält Bestimmungen, die die zivilgesellschaftliche<br />
Grundierung Europas stärken können.<br />
In der Praxis wird es nun darauf ankommen,<br />
dass die Grundrechtscharta Eingang in<br />
den Politikprozess erhält, indem sie schließlich<br />
im Vertrags werk der EU verankert wird. Bereits<br />
die zukünftige de facto Orientierung des Europäischen<br />
Gerichtshofs an den Bestimmungen<br />
der Grundrechtscharta stellt einen Fortschritt<br />
in der Entwicklung eines supranationalen<br />
Rechtsverständnis dar. Die Grundrechtscharta