Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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30 Forschunpsiournal NSB, Jp. 14, Heft 4, 2001<br />
Juan Diez Medrano<br />
Die Qualitätspresse und<br />
Europäische Integration<br />
Der vorliegende Beitrag behandelt die Frage<br />
nach der Existenz und nach den Entstehungsbedingungen<br />
einer europäischen Öffentlichkeit.<br />
Die empirische Annäherung an dieses Thema<br />
verlangt zunächst nach einer idealtypischen<br />
Festlegung dessen, was unter Öffentlichkeit zu<br />
verstehen ist und welche Kriterien für ihre Vergleichbarkeit<br />
angelegt werden können. Im Folgenden<br />
werde ich Öffentlichkeit als ein Bürger<br />
und Institutionen umspannendes Kommunikationsnetzwerk<br />
kennzeichnen, in dem die<br />
Zielsetzungen und Programme der politischen<br />
und gesellschaftlichen Akteure des Zentrums<br />
solcherart debattiert werden, dass die Gesamtbevölkerung<br />
diesen Debatten folgen und an<br />
ihnen teilnehmen kann. Umgekehrt können in<br />
diesem Netzwerk auch die Zielvorstellungen<br />
der Gesamtbevölkerung artikuliert und in die<br />
Debatte eingebracht werden, so dass sie eine<br />
Chance besitzen, von den politischen und gesellschaftlichen<br />
Akteuren des Zentrums aufgegriffen<br />
zu werden. Herkömmlicherweise entfaltet<br />
sich die Öffentlichkeit in den Medien<br />
und anderen zivilgesellschaftlichen Foren. Zur<br />
Bestimmung des Kongruenzverhältnisses von<br />
Öffentlichkeit mit einem bestimmten politischterritorialen<br />
Raum können die fünf folgenden<br />
Kriterien herangezogen werden:<br />
• Die Existenz von Medien oder anderer öffentlicher<br />
Foren mit gesamtterritorialer<br />
Reichweite.<br />
• Akteure an einem Ort (festgelegt über die<br />
Reichweite der Medien, über die sie ihre<br />
Meinungen äußern) treten in eine Debatte<br />
mit Akteuren an anderen Orten des jeweiligen<br />
politisch-territorialen Raums.<br />
• Akteure führen Debatten an verschiedenen<br />
Orten des jeweiligen politisch-territorialen<br />
Raumes.<br />
• Akteure debattieren ihre Zielsetzungen und<br />
Mittelauswahl einheitlich aus der Perspektive<br />
des jeweiligen politisch-territorialen<br />
Raumes und nicht aus der Perspektive der<br />
unterschiedlichen sub-territorialen Räume<br />
als Austragungsorte dieser Auseinandersetzungen.<br />
• Akteure in unterschiedlichen sub-territorialen<br />
Räumen des jeweiligen politisch-territorialen<br />
Raumes debattieren gleiche Themen<br />
und stimmen in ihren Problemrahmungen<br />
überein.<br />
Im Rahmen dieses Beitrages werde ich die<br />
ersten drei Kriterien nur am Rande behandeln<br />
können und mich stattdessen auf eine Analyse<br />
des vierten und fünften Kriteriums im Kontext<br />
der Auseinandersetzungen zum europäischen<br />
Einigungsprozess und zur Mitgliedschaft in der<br />
Europäischen Union (bzw. ihrer Vorgängerorganisationen)<br />
konzentrieren. Die europäische<br />
Öffentlichkeit, auf die ich mich beziehen werde,<br />
umfasst die Europäische Union. Ich beziehe<br />
mich dabei ausschließlich auf die Qualitätspresse<br />
als das wichtigste Forum, das diese<br />
Öffentlichkeit konstituiert. Gemessen am Umfang<br />
oder an der geographischen Verbreitung<br />
gibt es aktuell keine Qualitätszeitungen, die<br />
Die Qualitätspresse und Europäische Intepration 31<br />
man als europäisch bezeichnen könnte. Auch<br />
in der Vergangenheit aufgelegte Zeitungen, wie<br />
etwa der European, entsprachen nicht diesen<br />
Kriterien. Auseinandersetzungen zwischen Akteuren<br />
der Öffentlichkeiten unterschiedlicher<br />
territorialer Provenienz innerhalb des politischterritorialen<br />
Raumes, den wir gemeinhin als<br />
Europäische Union bezeichnen, sind bislang<br />
eher selten, wenn wir ihnen nicht gar vollständig<br />
entbehren. Hinzu kommt, dass es ohnehin<br />
nur eine kleine Zahl von Akteuren der Öffentlichkeit<br />
gibt, die für solche Debatten in den<br />
differenzierten Öffentlichkeitsräumen der EU<br />
zur Verfügung stehen. Menschen wie Helmut<br />
Schmidt, Timothy Garton Ash, Jacques Delors<br />
oder Felipe Gonzalez bleiben eher die Ausnahme<br />
als die Regel. Ergebnisse, die auf eine<br />
Auswertung des vierten und fünften Kriteriums<br />
basieren, stimmen uns dagegen zuversichtlicher,<br />
und dieser Beitrag wird zeigen, warum<br />
und in welchem Ausmaß dies der Fall ist.<br />
Eine Analyse des britischen, spanischen und<br />
deutschen intellektuellen Gemeinguts, das hier<br />
in der Form von Leitartikeln und Kommentaren<br />
in der Qualitätspresse vorliegt, zeugt von<br />
einer prinzipiellen Konstanz der Inhalte, die<br />
sich über den gesamten Erhebungszeitraum<br />
nachweisen lässt. Britische Intellektuelle sind<br />
in der Öffentlichkeit immer als konsequente<br />
Vertreter eines dezentralen Kooperationsmodells<br />
aufgetreten. Spanische und deutsche Intellektuelle<br />
hingegen haben ein eher zentralisiertes<br />
Integrationsmodell verteidigt. Diese Stabilität<br />
ist sicherlich auch dem Umstand zu verdanken,<br />
dass sich der europäische Einigungsprozess<br />
unterschiedlichen Integrationsprojekten<br />
gegenüber grundsätzlich flexibel und aufgeschlossen<br />
gezeigt hatte. Mitgliedschaft in der<br />
EU hat keinem Land abverlangt, seine eigenen<br />
Präferenzen bezüglich der Gestaltung des Einigungsprozesses<br />
aufzugeben und die Frage,<br />
in welche Richtung sich Europa fortentwickeln<br />
würde, konnte damit offengelassen werden. Ein<br />
weiterer Grund für diese weitreichende Stabilität<br />
der Integrationsprojekte britischer, spanischer<br />
und deutscher Intellektueller kann in der<br />
fortwährenden Aktualität der allgemeinen Fragestellungen<br />
gesucht werden, die diesen Projekten<br />
an erster Stelle zugrunde lagen. Diese<br />
Fragen betreffen Großbritanniens ,heroische'<br />
Bemühung, seine Rolle als unabhängige Weltmacht<br />
neben den USA und der Sowjetunion<br />
zu behaupten, Spaniens .verzweifelte' Bemühung,<br />
seine in Jahrhunderten des Niedergangs<br />
verloren gegangene Rolle auf dem Schauplatz<br />
der internationalen Politik wieder zu besetzen<br />
und Deutschlands .pragmatische' Bemühung,<br />
seine wirtschaftlichen und politischen Interessen<br />
effizient durchzusetzen, ohne die Verdammung<br />
durch die Welt befürchten zu müssen.<br />
Dieser Beitrag bemüht sich um eine Rekonstruktion<br />
dieser konstanten Themen auf der Basis<br />
einer Analyse von Argumenten, die für oder<br />
gegen den europäischen Einigungsprozess und<br />
die Mitgliedschaft in den sich entfaltenden europäischen<br />
Institutionen hervorgebracht werden,<br />
bzw. auf der Basis einer Inhaltsanalyse<br />
der medialen Auseinandersetzungen zum Europäischen<br />
Einigungsprozess in der deutschen,<br />
britischen und spanischen Presse, die in ihrer<br />
chronologischen Ordnung wiedergegeben werden<br />
sollen. Letztere Analyse veranschaulicht<br />
z.B., dass die Sorgen um die Souveränität, um<br />
das Aufbrechen der traditionellen Isolation des<br />
Landes oder um die zunehmende Bedeutungslosigkeit<br />
von Kleinstaaten in einer bipolaren<br />
Welt typischer Weise immer dann zur Sprache<br />
kamen, wenn Intellektuelle in der Öffentlichkeit<br />
solche nationalen Dilemmata aussprachen:<br />
Großbritanniens Verpflichtungen gegenüber<br />
dem Commonwealth und gegenüber den Vereinigten<br />
Staaten, die Verteidigung einer spezifischen<br />
Version des Sozialismus durch die britische<br />
Labour Party, die Auseinandersetzungen<br />
zwischen den demokratischen und antidemokratischen<br />
Kräften in Spanien und die pro-