17.10.2013 Aufrufe

Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

2<br />

Editorial<br />

DerEU-Koloss-DemokratiefreieZone?<br />

Im Juni 2001 stimmten die Iren bei einer Beteiligung<br />

von nur rund einem Drittel der Wählerinnen<br />

und Wähler in einem Referendum gegen<br />

den Vertrag von Nizza. Der provokative Titel<br />

unseres Themenheftes knüpft an die nicht nur<br />

am Beispiel des irischen Referendums sichtbar<br />

werdenden Vorbehalte vieler Bürgerinnen<br />

und Bürger in den Mitgliedsstaaten der Europäischen<br />

Union (EU) gegenüber den europäischen<br />

Institutionen an. Die Eurobegeisterung<br />

schwindet allenthalben (Offe 2001: 430ff). Die<br />

EU, gekennzeichnet durch einen enormen<br />

Machtzuwachs, lebt bislang von der Effektivität<br />

und dem Nutzen, nicht aber im gleichen<br />

Maße von der demokratischen Legitimität, der<br />

politischen Anerkennung und dem Bewusstsein<br />

der kulturellen Attraktivität auf Seiten der<br />

Bürgerinnen und Bürger. Der durch den Euro<br />

bewirkte Integrationsschub sowie der durch<br />

die Osterweiterung der EU absehbar bestehende<br />

erhöhte Legitimationsbedarf der europäischen<br />

Institutionen verdeutlichen den dringenden<br />

Bedarf, den Integrationsprozess auch<br />

auf politischer, sozialer und kultureller Ebene<br />

zu verstärken 1<br />

. Kritiker mahnen vor diesem<br />

Hintergrund an, dass aus einer europäischen<br />

Union der Nationalstaaten ein Europa der Bürgerinnen<br />

und Bürger werden muss.<br />

Doch wie sind die Aussichten einer Demokratisierung<br />

der Europäischen Union zu bewerten?<br />

Hierüber gibt es in den letzten Jahren eine<br />

kontroverse Diskussion. Die einen weisen auf<br />

die Eigenart der EU als supranationaler Einrichtung<br />

hin und vertreten die Ansicht, dass die<br />

Option der Demokratisierung der EU nur sehr<br />

eingegrenzt besteht. Nicht nur, so ihr Argument,<br />

fehlt es an einer europäischen Öffentlichkeit<br />

und einem europäischen politischen<br />

Diskurs. Auch von einer europäischen Zivilgesellschaft<br />

könne nicht die Rede sein. Käme<br />

es auch künftig zu einer Europäisierung des<br />

Parteien- und Verbändesystems, so sei „anzu­<br />

Forschungsjoumal NSB, Jg. 14, Heft 4, 2001<br />

nehmen, dass es sich um eine Europäisierung<br />

auf der Ebene der Führungen und Funktionäre<br />

handeln würde, während die Mitgliederebene<br />

wegen ihrer geringeren Kommunikationskompetenz<br />

weiterhin national bestimmt bliebe. (...)<br />

Den neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> und erst recht<br />

den ad-hoc-Initiativen, die auf nationaler Ebene<br />

wachsendes Gewicht erlangen, wird die<br />

europäische Ebene dagegen weitgehend versperrt<br />

bleiben" (Grimm 2001: 241 ff). 2<br />

Die anderen verweisen auf die vielfältige Symbiose<br />

der in den zurück liegenden zweihundert<br />

Jahren erfolgten nationalen Demokratisierungsprozesse<br />

und der Demokratisierung der<br />

supranationalen europäischen Institutionen. Sie<br />

unterstreichen den Prozesscharakter einer<br />

Demokratisierung der EU (Schuppen in diesem<br />

Heft) und die „schon vorhandenen ermutigenden<br />

historischen Tendenzen zu mehr Demokratie<br />

in der Union selbst" (Kaelble 2001:<br />

213).<br />

Einig sind sich jedoch alle Kommentatoren<br />

darin, dass es darauf ankommt, die Demokratisierung<br />

der EU nicht als eine Kopie nationalstaatlicher<br />

Muster zu begreifen. „Dieses Regime",<br />

so Claus Offe, „müsste eines sein, das<br />

einerseits demokratisch legitimiert, andererseits<br />

aber kein ,Staat' ist. (...) Die gesuchte<br />

Organisationsmacht bedarf der Fähigkeit, nicht<br />

nur Märkte zu schaffen (durch negative Integration),<br />

sondern damit zu beginnen, durch positive<br />

Integration die Grundlagen einer europäischen<br />

Gesellschaft zu legen." (Offe 2001: 433)<br />

Doch wie kann eine „demokratische Einwirkung<br />

auf sich selbst" jenseits des nationalstaatlichen<br />

Rahmens institutionalisiert werden<br />

(Habermas 2001 a und b; Klein 2001: 205-<br />

250)? Und wie können kulturelle und soziale<br />

Identitätsbildungsprozesse in der europäischen<br />

Integration unterstützt werden? Das vorliegende<br />

Themenheft gibt einen Einblick in den<br />

Prozess der Demokratisierung der EU. In fünf<br />

Bereichen lassen sich erste Schritte erkennen<br />

(Kaelble 2001: 208ff):<br />

<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 14, Heft 4, 2001 3<br />

Editorial<br />

(1) eine Stärkung der Rechte des Europäischen<br />

Parlaments bei Gesetzgebung, Budgetkontrolle<br />

und Ernennung des Präsidenten<br />

und/oder der Kommissare der Europäischen<br />

Kommission (zur Stärkung der Europäischen<br />

Parlaments siehe Leinen in diesem<br />

Heft);<br />

(2) die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit<br />

(dazu die Beiträge von Medrano<br />

und Meyer in diesem Heft) 3<br />

;<br />

(3) den Aufbau einer Unionsbürgerschaft<br />

(dazu der Beitrag von Lemke in diesem<br />

Heft);<br />

(4) die Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft<br />

(dazu die Beiträge von Schuppert,<br />

Schwenken und Roose in diesem<br />

Heft) 4<br />

;<br />

(5) eine stärkere Identifizierung der Bürger<br />

mit der EU (mit Blick auf die Beitrittsländer<br />

Mittel- und Osteuropas siehe den Beitrag<br />

von Brusis in diesem Heft).<br />

Auch wenn die hier vorgelegten Zwischenbilanzen<br />

durchaus positive Anhaltspunkte für<br />

den Demokratisierungsprozesses der EU bieten,<br />

so dürfen diese doch nicht überschätzt<br />

werden. Noch ist Brüssel in den Augen vieler<br />

Bürgerinnen und Bürger vor allem Symbol für<br />

den Koloss Europa und eine weitgehend demokratieferne<br />

Zone und absehbar bleiben die<br />

Nationalstaaten der primäre Bezugsrahmen<br />

von Zivilgesellschaft, Bürgerschaft und Öffentlichkeit.<br />

Auch die im Heft thematisierten<br />

positiven Ansätze können nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass die Zeit drängt. Ohne eine<br />

Demokratisierung der EU und eine Vertiefung<br />

der Integration, so ist zu befürchten, wird die<br />

EU den Herausforderung der Erweiterung wie<br />

auch der Globalisierung nicht gewachsen sein.<br />

Es bedarf daher des offensiven politischen<br />

Diskurses über die Demokratisierung der EU.<br />

Europäische Einigung kann dabei nicht nur<br />

verrechtlicht, sie muss auch gelebt werden.<br />

„Die überwiegend ablehnende oder wenigstens<br />

zögernde Bevölkerung kann für Europa nur<br />

gewonnen werden, wenn das Projekt aus der<br />

blassen Abstraktion von Verwaltungsmaßnahmen<br />

und Expertengesprächen herausgelöst,<br />

also politisiert wird." (Habermas 2001b: 125)<br />

Mit diesem Themenheft möchten wir zu diesem<br />

politischen Diskurs einen Beitrag leisten.<br />

Die Beiträge des Themenschwerpunktes sind<br />

aus einem Kongress unter dem Titel .Bürgerschaft,<br />

Öffentlichkeit und Demokratie in Europa'<br />

am 6./7. Juli 2001 in Berlin hervorgegangen.<br />

Veranstalter waren der Arbeitskreis .<strong>Soziale</strong><br />

<strong>Bewegungen</strong>' der Deutschen Vereinigung<br />

für Politische Wissenschaft, das <strong>Forschungsjournal</strong><br />

NSB und das Wissenschaftszentrum<br />

Berlin. Unser Dank gilt zum einen den Stiftungen,<br />

die den Kongress gefördert haben, namentlich<br />

Britta Scholz und Michael Stognienko<br />

von der Heinrich-Böll-Stiftung, Heike Kauls<br />

von der Otto-Brenner-Stiftung und Erika Mezger<br />

von der Hans-Böckler-Stiftung. Zum anderen<br />

bedanken uns bei den Mitveranstaltern,<br />

insbesondere bei Ruud Koopmans und Jutta<br />

Höhne vom WZB und bei den Leitern der drei<br />

Workshops. Im Frühjahr 2002 erscheinen ausgewählte<br />

Beiträge des Kongresses unter dem<br />

Titel .Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie<br />

in Europa' im Verlag Leske+Budrich<br />

(Klein/Koopmans u.a. 2002).<br />

In diesem Heft findet sich auch der Call for<br />

Papers für den Kongress .Demokratie und Sozialkapital<br />

- die Rolle zivilgesellschaftlicher<br />

Akteure' im Juni 2002 am WZB, den das <strong>Forschungsjournal</strong><br />

NSB mit ausrichtet. Wir bitten<br />

um Beachtung.<br />

Ansgar Klein, Berlin/Markus Rohde, Bonn

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!