Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
66 Helen Schwenken<br />
2.4 Die Grenze vor der Grenze:<br />
Residenzpflicht für<br />
Asylbewerberinnen in der BRD<br />
Der Aufenthaltsstatus von Menschen in einem<br />
Territorium ist durch eine mit der Asyl- und<br />
Migrationspolitik verbundene Ausdifferenzierung<br />
gekennzeichnet. Asylbewerberinnen im<br />
laufenden Verfahren werden besondere Restriktionen<br />
auferlegt. Der Medientheoretiker Joseph<br />
Vogl hat die Bedeutung von Asyl historisch<br />
verfolgt: Asyl bedeute „nicht mehr allein<br />
Zufluchtsstätte, sondern ist nun überdies zum<br />
Namen für einen Ort der Einsperrung geworden<br />
- das Asyl als Heim, als Unterkunft für<br />
Bedürftige, als Irrenanstalt und Ort der Disziplinierung,<br />
[...] in dem eine polizeiliche Sorge<br />
waltet" (Vogl 1998). Vor diesem Hintergrund<br />
wenden sich Flüchtlingsselbstorganisationen<br />
wie u.a. ,The Voice' oder die ,Brandenburgische<br />
Flüchtlingsinitiative' seit rund zwei Jahren<br />
verstärkt gegen die Residenzpflicht, die<br />
nach §56 Asyl-Verfahrensgesetz die Aufenthaltsgestattung<br />
von Asylbewerberinnen auf den<br />
Landkreis bzw. die kreisfreie Stadt der zuständigen<br />
Ausländerbehörde beschränkt. Diese<br />
Form der Einschränkung der Bewegungsfreiheit<br />
ist in der EU einmalig. Flüchtlingsgruppen<br />
berufen sich auf Meinungs- und Redefreiheit<br />
sowie das Recht auf Vereinigung, wie es<br />
in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte<br />
steht.<br />
Von Seiten der Flüchtlinge und Asylbewerberinnen<br />
beteiligten sich an einer Kampagne zur<br />
Residenzpflicht im Frühjahr 2001 zum großen<br />
Teil Personen afrikanischer Herkunft, die vor<br />
der Flucht in ihren Herkunftsländern politisch<br />
aktiv waren. Sie verweisen auf die Parallelen<br />
zwischen Deutschland und der Ära der rassistischen<br />
Apartheid in Südafrika. So benutzen<br />
sie bewusst den Begriff Apartheid, „weil die<br />
Residenzpflicht, diese deutschen Passgesetze,<br />
uns zu öffentlichen Verdächtigen machen, ohne<br />
dass wir Kriminelle sind; weil wir aus rassistischen<br />
Gründen eingesperrt werden, ohne ein<br />
Verbrechen begangen zu haben - und dies alles<br />
legal" (http://www2.nadir.org/nadir/initiativ/inter/residenz/main.cgi).<br />
Eva Horn beschreibt<br />
analog die Funktion der Residenzpflicht<br />
als Ausschluss im Inneren: „Ist es nicht<br />
möglich, den unliebsamen Grenzgänger außen<br />
auszuschließen, so muss er wenigstens innen<br />
ausgeschlossen sein" (Horn 1998: 45).<br />
Die Forderung nach Abschaffung der Residenzpflicht<br />
gehört zur politischen Selbsthilfe, die<br />
von politischem Pragmatismus bestimmt ist -<br />
dieser Kategorie sind auch die vielerorts vorangegangenen<br />
Kämpfe gegen Lebensmittelgutscheine<br />
und andere unwürdige Zustände zuzurechnen.<br />
Die Abschaffung der Residenzpflicht<br />
ist darüber hinaus eine Grundvoraussetzung, um<br />
am politischen Leben zu partizipieren und sich<br />
überregional zu koordinieren. Bemerkenswert<br />
- insbesondere verglichen mit den Flüchtlingsorganisierungsversuchen<br />
Anfang der 1990er Jahre<br />
- ist die große Beteiligung von Flüchtlingen<br />
insbesondere aus den neuen Bundesländern. Die<br />
Thematisierung der Einschränkung durch die<br />
Residenzpflicht führte zu Aufmerksamkeit bei<br />
politischen Lobbygruppen, etwa der Ausländerbeauftragten<br />
oder der Grünen Bundestagsfraktion,<br />
die eine öffentliche Anhörung durchführte.<br />
Vor der Residenzpflichtkampagne gab es<br />
kaum eine Thematisierung.<br />
Der konzertierten Kampagne gingen eine Reihe<br />
von Aktionen voraus: So fand am 3. Oktober<br />
2000 in Hannover eine größere Demonstration<br />
statt, im Anschluss daran gab es eine<br />
mediale Prozessbegleitung für einige Aktivisten<br />
der Flüchtlingsgruppe ,The Voice', die v.a.<br />
in Süd-Niedersachsen wegen mehrfacher Verletzung<br />
der Residenzpflicht vor Gericht standen.<br />
Spielerisch thematisierten Flüchtlings- und<br />
Antirassismusgruppen im Ruhrgebiet die Residenzpflicht-beim<br />
,Spiel ohne Grenzen': Die<br />
„No border, no nation, stop deportation!" 67<br />
Mittellinie eines Fußballfeldes ist zugleich die<br />
Grenze zwischen zwei Landkreisen, die im<br />
Laufe des Spiels immer wieder überspielt wird.<br />
3 Ausblick<br />
Die Betrachtung der Protestaktivitäten an territorialen<br />
Grenzverläufen im grenzenlosen<br />
Europa' hat gezeigt, dass Grenzen zum zentralen<br />
Kristallisationspunkt für politische Mobilisierungen<br />
durch antirassistische Gruppen und<br />
Organisationen politischer Flüchtlinge und Migrantinnen<br />
werden. Dabei verliert Protest trotz<br />
der Zentralisierung europäischer Migrationspolitik<br />
nicht den Ort, sondern die europäische<br />
Mehrebenenpolitik führt zu Mehrebenenmobilisierungen,<br />
in dessen Rahmen in Brüssel<br />
und Strassburg parallel Menschenrechtsorganisationen<br />
und antirassistische Netzwerke eine<br />
auf die EU fokussierte Lobbypolitik betreiben.<br />
Die am Beispiel der Grenzregime illustrierte<br />
Entwicklung zeigt interessante Fragen für die<br />
soziale Bewegungsforschung auf: Findet im<br />
Zuge der Europäisierung eine Ortsverlagerung<br />
von Protest statt? Welchen Stellenwert bekommt<br />
die europäische ,Hauptstadt' Brüssel?<br />
Die wenigen Arbeiten, die es zur Protestmobilisierung<br />
auf europäischer Ebene gibt, machen<br />
dazu kaum Aussagen. Die Aktualität der Frage<br />
um lokale Verortung von Protestaktivitäten<br />
wurde am 20. Juni diesen Jahres deutlich, als<br />
eine ,online'-Internetdemonstration gegen Abschiebungen<br />
stattfand, mit der die Homepage<br />
der Lufthansa blockiert werden sollte. Das Ordnungsamt<br />
Köln, bei dem die Demonstration<br />
angemeldet werden sollte, bezeichnete sich für<br />
nicht zuständig.<br />
Eine weitere Frage, die sich an die in diesem<br />
Beitrag vorgestellten Protestaktivitäten anschließt,<br />
ist die Frage nach der Existenz eines<br />
Europäischen Protests'. Mit der Thematisierung<br />
von Grenzen wird zunächst unabhängig<br />
von der EU Bezug genommen auf ein nationalstaatliches<br />
Charakteristikum. Die Migration<br />
selbst ist auf weltweite Migrationsentwicklungen<br />
zurückzuführen. Antirassistische <strong>Bewegungen</strong><br />
entstehen meist im Kontext lokaler<br />
Auseinandersetzungen. Kann man dennoch von<br />
europäischem Protest sprechen? EU-spezifische<br />
Aspekte antirassistischer Mobilisierung beziehen<br />
sich auf die Schengener und Dubliner Abkommen,<br />
deren Auswirkungen auf die Anrainerstaaten<br />
sowie die Freizügigkeitsvereinbarung<br />
innerhalb der EU. Migrationspolitik hat<br />
einen europäischen Rahmen bekommen. Durch<br />
die EU-Osterweiterung entstehen neue EU-<br />
Außengrenzen, die bisherigen Grenzen bleiben<br />
zunächst einmal aufgrund der Ubergangsfristen<br />
bestehen. Der Protest basiert zwar in<br />
erster Linie auf lokaler und nationaler Mobilisierung,<br />
doch ist durch die internationale Protestmobilisierung<br />
nach Seattle auch neuer Wind<br />
in die europaweiten Aktivitäten von antirassistischen<br />
Gruppen gekommen, denen sich auch<br />
immer mehr Flüchtlings- und Migrantinnenselbstorganisationen<br />
anschließen. Die Grenzcamps<br />
finden nicht isoliert statt, sondern es<br />
besteht das Gefühl eines europaweiten Zusammenhangs<br />
(z.B. gemeinsame Intemetseite, Videoeinspielungen<br />
von parallel stattfindenden<br />
Camps). Grenzregime werden als Thema und<br />
Ort für diese Aktivitäten nicht an Bedeutung<br />
verlieren und es kann von europäischer Protestmobilisierung<br />
gesprochen werden.<br />
Für die Mobilisierung von Migrantinnen und<br />
unterstützenden Organisationen ist zudem die<br />
in der NSB-Forschung immer wieder diskutierte<br />
Problematik, dass es nicht nur auf die<br />
,eigene' Mobilisierungsstärke ankommt, existenziell.<br />
Da migrationsabschottende Grenzregime<br />
auch mit der Disposition der Bevölkerung<br />
in Grenzregionen verbunden sind, ist eine<br />
umfassendere Mobilisierung als die der auf<br />
Brüssel konzentrierten Einflussnahme auf politische<br />
Entscheidungsträgerinnen notwendig.