Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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72 Jochen Roose<br />
vor überwiegend national geregelt werden, wie<br />
etwa Steuern oder Energiepolitik. Andere Bereiche<br />
dagegen sind praktisch vollständig durch<br />
Gesetzgebung der EU geregelt, wie etwa die<br />
Landwirtschaft mit erheblichen Folgen für den<br />
Umwelt- und Naturschutz. Der Bedeutung der<br />
nationalen Regierungen stehen aber die weitreichenden<br />
Grundsatzentscheidungen auf europäischer<br />
Ebene gegenüber - oft mit erheblichen<br />
Folgen für die Umweltpolitik (vgl. Hey<br />
1994). Angesichts dieser Situation muss die<br />
geringe Intensität der EU-Arbeit verwundern<br />
und ist nicht allein mit politischen Zuständigkeiten<br />
erklärbar.<br />
3 Mitgliedschafts- und Einflusslogik:<br />
ein Dilemma<br />
Hey und Brendle hatten in ihrer Studie den<br />
weitgehenden Verzicht auf politische Arbeit bei<br />
EU-Institutionen unter anderem auf ein Dilemma<br />
von Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik<br />
zurückgeführt (1994). Mit Mitgliedschaftslogik<br />
und Einflusslogik werden zwei<br />
sich widersprechende Anforderungen an Interessenorganisationen<br />
bezeichnet. Die Begriffe<br />
wurden von Schmitter und Streeck zur Untersuchung<br />
von Unternehmensorganisationen eingeführt<br />
(1981). Streeck bezeichnet Mitgliedschaftslogik<br />
und Einflusslogik als „zwei<br />
zueinander in einem Spannungsverhältnis stehende<br />
Umwelten [eines Verbandes] (...): [die]<br />
Lebenswelt ihrer Mitglieder einerseits und [die]<br />
institutionellen Bedingungen, unter denen ein<br />
Verband seine Ziele zu verwirklichen hat,<br />
andererseits" (Streeck 1994: 130-<br />
Die Mitgliedschaftslogik erfordert von den<br />
Umweltorganisationen eine möglichst radikale<br />
oder zumindest weitgehend kompromisslose<br />
Haltung, um die inhaltlichen Forderungen<br />
der Mitglieder authentisch zu vertreten. Die<br />
Einflusslogik dagegen erfordert eine Anpassung<br />
an die Anforderungen des politischen Sys<br />
tems, welches Ziel der Einflussversuche ist.<br />
Beide Logiken können komplementär<br />
zueinander sein, meist wird aber von einem<br />
Widerspruch ausgegangen (Janett 1997, Wiesenthal<br />
1993). Die auf politischer Ebene erforderlichen<br />
Kompromisse stehen einer unverfälschten<br />
Repräsentation der Mitgliederinteressen<br />
entgegen, denn die Einflussnahme in der<br />
Politik erfordert Zugeständnisse.<br />
Für nationale Umweltorganisationen stellt sich<br />
bei ihrer europäischen Arbeit das Problem von<br />
Einflusslogik und Mitgliedschaftslogik in besonderer<br />
Schärfe. 6<br />
Drei Gründe sind dafür verantwortlich:<br />
Erstens werden die Restriktionen, denen europäische<br />
(Umwelt )Politik unterliegt, nur unzureichend<br />
in der Öffentlichkeit wahrgenommen.<br />
Das politische System der EU wird kaum in<br />
den Massenmedien beobachtet, die Berichterstattung<br />
ist sehr begrenzt. Das Urteil von Gerhards<br />
hat auch heute noch Gültigkeit: „Die<br />
Entwicklung der Öffentlichkeit hinkt [dem]<br />
Prozeß des Transfers von Kompetenzen, Kontrollen<br />
und Ressourcen von den nationalstaatlichen<br />
Entscheidungszentren auf das supranationale<br />
Gebilde EG weit hinterher" (Gerhards<br />
1993: 559, ders. 2000, Neidhardt et al. 2000).<br />
Damit wird den Mitgliedern bzw. Unterstützern<br />
von Umweltorganisationen nicht bereits<br />
durch eine Beobachtung der öffentlichen Diskussion<br />
deutlich, gegen welche Widerstände<br />
Umweltorganisationen vorzugehen haben, welche<br />
Kompromisse noch einen Erfolg darstellen<br />
und in welchen Aspekten sich die Umweltorganisationen<br />
erfolgreich durchgesetzt haben.<br />
Dies an die Mitglieder zu vermitteln, ist im<br />
Vergleich zu nationaler Politik für die Umweltorganisationen<br />
bei der EU-Politik erheblich<br />
schwieriger.<br />
Zweitens ist die direkte Mobilisierung von Protest<br />
auf europäischer Ebene mit Schwierigkei-<br />
Die Basis und das ferne Brüssel 73<br />
ten verbunden, die nur selten überwunden werden<br />
(Rucht 2000b).. Nicht zuletzt das gerade<br />
erwähnte Desinteresse der Massenmedien an<br />
europäischen Themen dürfte dafür mit verantwortlich<br />
sein. Dementsprechend ist eine radikalere<br />
Proteststrategie keine realistische Option<br />
für die Umweltorganisationen. Einfluss auf<br />
EU-Ebene durch Lobbying ist dagegen erfolgversprechender,<br />
gerade wenn die Organisationen<br />
sich der Einflusslogik entsprechend dem<br />
Politikstil der EU-Institutionen anpassen. „Die<br />
Verwaltung [der EU] betreibt eine Auslese zwischen<br />
konstruktiven' und , destruktiven' Beiträgen.<br />
Es besteht keine breite Euro-Öffentlichkeit',<br />
an die man sich durch gute Grundlagenarbeit<br />
und polarisierende Kampagnen wenden<br />
könnte" (Hey/Brendle 1994: 23ff). 7<br />
Da<br />
Lobbying nicht öffentlich stattfindet und zum<br />
Teil mit erheblichen Kompromissen einhergeht,<br />
ist gerade diese Art der Aktivität schwer an die<br />
Mitglieder zu vermitteln.<br />
Drittens ist die Arbeit der Brüsseler Büros für<br />
die Basis weit weg und die Bindung der Verbandsarbeit<br />
auf europäischer Ebene an die Basis<br />
findet über mehrere Zwischenschritte statt.<br />
Dies erschwert eine vermittelnde Arbeit von<br />
Organisationsaktivisten, die Wiesenthal als eine<br />
Lösungsmöglichkeit des Widerspruchs von<br />
Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik ausgemacht<br />
hatte (1993). Die EU-Arbeit läuft wesentlich<br />
in Kooperation mit Vertretungen vor<br />
Ort in Brüssel, da diese Büros die ersten Ansprechpartner<br />
für die Kommissionsmitarbeiter<br />
sind. Die wenigen Mitarbeiter der nationalen<br />
Organisationen, die intensiv auf EU-Ebene eingebunden<br />
sind, dürften Schwierigkeiten haben,<br />
ihre Arbeit intern darzustellen.<br />
Aufgrund dieser Überlegungen ist die Erklärung<br />
von Hey und Brendle auch zehn Jahre<br />
später plausibel. Sie hatten mit dem Dilemma<br />
von Einflusslogik und Mitgliedschaftslogik auf<br />
ein systematisches Problem von Interessenor<br />
ganisationen verwiesen, das nicht allein dadurch<br />
zu lösen ist, dass die Bedeutung der EU<br />
von den Umweltorganisationen erkannt wird.<br />
Dieses systematische Dilemma könnte erklären,<br />
warum die Umweltorganisationen kaum<br />
auf EU-Ebene aktiv sind, obwohl ihnen in den<br />
letzten Jahren die enorme Bedeutung der europäischen<br />
Ebene durchaus bewusst geworden<br />
ist. Ob aber der Verweis auf das Dilemma von<br />
Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik tatsächlich<br />
die weitgehende Untätigkeit der Umweltorganisationen<br />
auf europäischer Ebene plausibel<br />
erklären kann, ob also ein systematisches<br />
und nicht auflösbares Problem die Organisationen<br />
an EU-bezogener Arbeit hindert, soll hier<br />
anhand weiterer Beobachtungen genauer geprüft<br />
werden.<br />
4 Mitglieder-Ansichten und<br />
EU-Arbeit<br />
Die Mitglieder der deutschen Umweltorganisationen<br />
begrüßen im Großen und Ganzen EU-<br />
Arbeit - so zumindest ist die Einschätzung der<br />
befragten Organisationsvertreter. Die Befragten<br />
gehen für die Mehrheit ihrer Mitglieder<br />
von einem grundsätzlichen, wenn auch nicht<br />
sehr interessierten Einverständnis aus. „Also<br />
ich denke, das ist relativ diffus. Soweit ich das<br />
mitgekriegt habe, wird zugestanden, dass das<br />
wichtig ist, dass es immer wichtiger wird",<br />
berichtet Jörg Thiemann-Linden vom ,Verkehrsclub<br />
Deutschland' (VCD). 8<br />
Zum Teil werden<br />
die nationalen Umweltorganisationen direkt<br />
mit der Erwartung konfrontiert, auch auf<br />
EU-Ebene zu arbeiten. Auf Mitgliederversammlungen<br />
fragen einzelne Mitglieder nach<br />
den Aktivitäten auf europäischer Ebene und<br />
die Einrichtung von entsprechenden Mitarbeiterstellen<br />
wird begrüßt oder sogar gefordert.<br />
Nun ist eine grundsätzliche, wenn auch zum<br />
Teil wenig interessierte Zustimmung der Mitglieder<br />
noch keine Lösung des Dilemmas. Die