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Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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6<br />

Aktuelle Analyse<br />

Iierte Einsicht zu erinnern, dass die Integration<br />

Europas und damit auch die Staatswerdung<br />

Europas sich prozesshaft vollzieht, das Werden<br />

Europas von der zweckverbandlich organisierten<br />

Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen<br />

Union mit gemeinsamem Wertehaushalt<br />

Prozesscharakter hat. Schon an dieser Stelle<br />

können wir also eine erste Zwischenbilanz ziehen<br />

und feststellen, dass der häufig mit dem<br />

Begriff der politischen Finalität bezeichnete Prozess<br />

der Staatswerdung Europas weder mit der<br />

traditionellen Entgegensetzung von Staatenverbund<br />

oder Bundesstaat noch mit den Vorstellungen<br />

des nationalen Verfassungsrechts angemessen<br />

erfasst werden kann, sondern als ein<br />

evolutionärer Prozess einer nichtstaatlichen Staatenverbindung<br />

verstanden werden muss, der<br />

seiner eigenen Entwicklungs- und Bewegungslogik<br />

folgt und dabei eigengeartete, dem jeweiligen<br />

Integrationsstadium entsprechende Verfassungs-<br />

und Organisationsstrukturen hervorbringt.<br />

Für das von uns zu traktierende Thema der europäischen<br />

Zivilgesellschaft bedeutet dies, dass<br />

wir - wie bei der staatsrechtlichen Einordnung<br />

der Europäischen Union - einer Begriffssprache<br />

der Skalierung (Schuppert 1994: 53f) bedürfen,<br />

die Übergänge sprachfähig und damit<br />

kommunizierbar macht. Der dafür in Betracht<br />

kommende Begriff ist der der Europäisierung,<br />

denn er hat zwei entscheidende Vorteile: er trägt<br />

zum einen der Tatsache Rechnung, dass Europa<br />

als dynamisches System verstanden werden<br />

muss und die europäische Integration prozesshaften<br />

Charakter hat; zum zweiten zwingt er<br />

nicht dazu, die oben aufgeworfenen Fragen nach<br />

der europäischen Gesellschaft, der europäischen<br />

Öffentlichkeit und der europäischen Identität mit<br />

ja oder nein beantworten zu müssen, vielmehr<br />

können Entwicklungen und Übergänge identifiziert<br />

werden, die den Weg zur europäischen<br />

Zivilgesellschaft markieren (zu diesem Vorteil<br />

der Alles-oder-nichts-Vermeidung Neidhardt et<br />

al. 2000).<br />

Gunnar Folke Schuppert<br />

Wir schlagen daher vor, die nur scheinbare<br />

Gewissheit vermittelnden Unterstände von<br />

,gibt es oder gibt es nicht' zu verlassen und im<br />

Folgenden von der mit der zunehmenden Integration<br />

Europas einhergehenden Europäisierung<br />

des Nationalstaates zu sprechen, von<br />

• der Europäisierung der nationalen Gesellschaften.<br />

• der Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten,<br />

• der Europäisierung nationaler Identitäten,<br />

und damit zugleich das Augenmerk darauf zu<br />

lenken, dass wir es wiederum nicht mit einem<br />

dichotomischen Gegensatz zu tun haben -<br />

diesmal von Europäischer Union und den nationalen<br />

Mitgliedstaaten -, sondern mit einem<br />

zunehmenden Verzahnungsprozess im europäischen<br />

Mehrebenensystem.<br />

Wenn diese zentrale Europäisierungs-These<br />

stimmt, dann müssten wir in der Lage sein, sie<br />

beispielhaft an verschiedenen Europäisierungsbereichen<br />

zu belegen, Bereichen also, in denen<br />

sich mit durchaus unterschiedlichen Geschwindigkeiten<br />

Europäisierungsprozesse vollziehen,<br />

die wiederum als Bausteine einer sich<br />

herausbildenden europäischen Zivilgesellschaft<br />

dienen könnten.<br />

2 Zaghafte und weniger zaghafte<br />

Europäisierungsprozesse<br />

2.1 Europäisierung nationaler<br />

Öffentlichkeiten<br />

Ein Beispiel für einen eher zaghaften Europäisierungsprozess<br />

ist der Prozess der Europäisierung<br />

nationaler Öffentlichkeiten (Kaelble<br />

2000). Auch wenn es noch keine europäische<br />

Massenöffentlichkeit geben mag, so registrie-<br />

Europäische Zivilgesellschaft - Phantom oder Zukunftsprojekt? 7<br />

Aktuelle Analyse<br />

ren aufmerksame Beobachter die zunehmende<br />

Herausbildung von Eliteöffentlichkeiten (zum<br />

Begriff Neidhardt et al. 2000) und von Experten-<br />

oder Fachöffentlichkeiten, so dass man resümierend<br />

doch davon sprechen könne, dass<br />

sich in den 1980er und 1990er Jahren die Elemente<br />

einer europäischen Öffentlichkeit verstärkt<br />

hätten (Kaelble 2000: 266f).<br />

Der Autor dieses Essays möchte diese Trendaussage<br />

mit einem Beispiel aus dem eigenen<br />

Erfahrungsbereich stützen, aber zuvor eine öffentlichkeitshistorische<br />

Bemerkung vorausschicken.<br />

Neidhardt et al. (2000) haben darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass die Herausbildung einer<br />

gesamtdeutschen Öffentlichkeit als Begleiterin<br />

der deutschen Reichsgründung von<br />

1871 vorbereitet und unterstützt wurde durch<br />

drei Wellen von Zeitungsgründungen in den<br />

1850er, 1870er und 1880er Jahren, so dass sich<br />

auf diese Weise ab Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

ein Massenpublikum herausbildete, das auch<br />

für Zwecke einer Politisierung erreichbar war.<br />

Wenn man diese Beobachtung nun auf die verschiedenen<br />

Fachöffentlichkeiten projiziert, so<br />

kann man jedenfalls für die juristische Fachöffentlichkeit,<br />

der ich angehöre, eine eindeutige<br />

Europäisierung konstatieren: eine Fülle von auf<br />

ganz Europa zielenden Fachzeitschriften entsteht<br />

und sie haben bezeichnenderweise in der<br />

Regel auch einen nicht-nationalsprachlichen<br />

Titel wie etwa .European Journal for<br />

Damit sind wir unversehens beim Sprachproblem<br />

angelangt, das als Argument im Diskurs<br />

über die Möglichkeit einer europäischen Gesellschaft<br />

stets eine wichtige Rolle spielt<br />

(Grimm 2001a). Es können an dieser Stelle<br />

nicht die Bedingungen diskutiert werden, unter<br />

denen sich aus und neben Regionalspra-

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