Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
8<br />
Aktuelle Analyse<br />
eben Universalsprachen bilden und funktionieren,<br />
wie z. B. das Latein als Sprache der europäischen<br />
Elitenöffentlichkeit im christlichen<br />
Europa des Mittelalters oder das Sanskrit im<br />
südostasiatischen Raum; die europäische Integration<br />
- insbesondere auch nach der geplanten<br />
Osterweiterung - wie der Prozess der Globalisierung<br />
scheinen uns jedenfalls die funktionale<br />
Notwendigkeit zu verstärken, sich auf eine<br />
besonders weitverbreitete Regionalsprache als<br />
Kommunikationsmittel zu verständigen - was<br />
nach Lage der Dinge das Englische sein dürfte.<br />
2.2 Europäisierung der nationalen<br />
Rechtsordnungen<br />
Ein Beispiel für einen ganz und gar nicht zaghaften<br />
Europäisierungsprozess ist die Europäisierung<br />
der nationalen Rechtsordnungen. Wir<br />
haben es hier - darin sind sich alle Beobachter<br />
einig - mit einem tiefgreifenden Prozess der<br />
Europäisierung des nationalen Rechts, vor allem<br />
des nationalen Verwaltungsrechts zu tun,<br />
so dass die Formulierung Friedrich Schochs<br />
(1998) von der strukturellen Tiefenwirkung des<br />
Europüisierungsprozesses durchaus gerechtfertigt<br />
erscheint. Diese strukturelle Tiefenwirkung<br />
kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass<br />
alle tragenden Bauelemente des Systems des<br />
Allgemeinen Verwaltungsrechts von der Europäisierung<br />
erfasst werden: von der Verwaltungsorganisation<br />
und dem Verwaltungsverfahren<br />
über den vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz<br />
bis zum Regelungssystem des Staatshaftungsrechts<br />
(Uberblick bei Schwarze 1996).<br />
Aber selbst das nationale Verfassungsrecht<br />
bleibt nicht ,ungerupft': Während nach den im<br />
Grundgesetz geschützten hergebrachten Grundsätzen<br />
des Berufsbeamtentums grundsätzlich<br />
nur Deutsche in ein Beamtenverhältnis berufen<br />
werden können, geht die in Art. 39 EGV<br />
gewährte Arbeitnehmerfreizügigkeit vor, so<br />
dass der deutsche Gesetzgeber in einer Art von<br />
Reaktionsgesetzgebung das Beamtenrecht än<br />
Gunnar Folke Schuppert<br />
dern musste. Ein weiteres anschauliches Beispiel<br />
bietet die Feststellung des Europäischen<br />
Gerichtshofes, dass ein genereller Ausschluss<br />
von Frauen vom Dienst an der Waffe nicht mit<br />
der europarechtlichen Gleichstellungsrichtlinie<br />
zu vereinbaren sei. Das in Art. 12a IV 2 GG<br />
niedergelegte Verbot zum Dienst mit der Waffe<br />
hat folglich außer Anwendung zu bleiben.<br />
2.3 Europäisierung der nationalen<br />
Gesellschaften/Zivilgesellschaften<br />
Was wir hier als Europäisierung der nationalen<br />
Gesellschaften bezeichnen wollen, soll an<br />
drei Beispielsbereichen verdeutlicht werden:<br />
(a) Europäisierung des gesellschaftlichen Symbolhaushalts<br />
Wohl alle nationalstaatlich verfassten Gesellschaften<br />
verfügen über so etwas wie nationale<br />
Gründungsmythen (Münkler 2000) oder Symbole<br />
nationaler Gemeinsamkeit, die man als<br />
Bestandteile eines gesellschaftlichen Symbolhaushalts<br />
bezeichnen kann (siehe dazu auch<br />
Schmale 1996). Konsequenterweise entwickelt<br />
die Europäische Union seit den 1980er Jahren<br />
eine Politik der europäischen Symbole:<br />
So existiert seit 1985 der gleich aussehende<br />
Pass für alle Unionsbürger, dessen Handfestigkeit<br />
als Symbol mit dem Wegfall der Passkontrollen<br />
für Unionsbürger innerhalb des<br />
Großteils der Europäischen Union deutlich zunahm.<br />
Die europäische Flagge mit den zwölf<br />
Sternen auf blauem Grund wurde 1986 zur<br />
offiziellen Flagge der Europäischen Union erhoben<br />
und „setzte sich rasch in der Öffentlichkeit<br />
als europäisches Symbol durch, vor öffentlichen<br />
Gebäuden, auf Autokennzeichen<br />
ebenso wie in der Werbung" (Kaelble 2000:<br />
264f). Welches Identifikationspotential einer<br />
Nationalflagge innewohnt, haben spätestens die<br />
Ereignisse des 11. September 2001 in den USA<br />
Europäische Zivilgesellschaft - Phantom oder Zukunftsprojekt? 9<br />
Aktuelle Analyse<br />
gezeigt. Besondere Symbolkraft dürfte im europäischen<br />
Alltag vor allem den in wenigen<br />
Wochen allein als gesetzliches Zahlungsmittel<br />
gültigen europäischen Geldscheinen zukommen:<br />
der Euro fungiert - so ist es formuliert<br />
worden - als nach außen differenzerzeugendes<br />
Symbol der inneren Gemeinsamkeit (Katz/<br />
Weßels 1999).<br />
(b) Europäische Identitätsbildung durch eine<br />
europäische Verfassung?<br />
Betrachtet man die zahlreichen Verlautbarungen,<br />
die sich auf die Wünschbarkeit einer europäischen<br />
Verfassung beziehen, so scheint<br />
Europa von einer Art Verfassungssehnsucht ergriffen<br />
zu sein, die offenbar aus der Erwartung<br />
gespeist wird, der Europäisierungsprozess sei<br />
ein gutes Stück vorangekommen, wäre man<br />
durch das einigende Band einer gemeinsamen<br />
Verfassung verbunden. Dies ist deswegen<br />
besonders erstaunlich, weil Europa - bei Lichte<br />
besehen - in Gestalt der europäischen Verträge<br />
längst eine Verfassung hat (Schuppert<br />
2000), die auch dauernd den jeweiligen Integrationsstand<br />
nachzeichnet (Typus einer dynamischen<br />
Verfassung) und die EU zudem durch<br />
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes<br />
über einen funktionsfähigen Grundrechtschutz<br />
verfügt.<br />
Die Verfassungssehnsucht zielt demnach auf<br />
etwas anderes als die klassische Verfassungsaufgabe<br />
der Begrenzung und Mäßigung staatlicher<br />
Macht, sie zielt - wie der Entwurf einer<br />
europäischen Grundrechtscharta zeigt - auf Integration<br />
durch Verfassungsrecht (Schuppert/<br />
Bumke 1999), auf die identitätsstiftende Wirkung<br />
gemeinsamer Verfassungswerte. Die Herausbildung<br />
eines europäischen Verfassungspatriotismus<br />
(Sternberger 1990) wäre in der<br />
Tat ein ganz wesentlicher Motor auch und gerade<br />
für die Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft.<br />
(c) Europäisierung der zivilgesellschaftlichen<br />
Akteure<br />
Auch hierbei dürfte es sich um einen eher zaghaften<br />
Europäisierungsprozess handeln, da es -<br />
worauf wiederholt hingewiesen worden ist<br />
(Grimm 2001a) - auf europäischer Ebene nach<br />
wie vor an europäischen Parteien, europäischen<br />
Verbänden und vor allem auch europäischen Medien<br />
(insbesondere Funk und Fernsehen) weitgehend<br />
fehlt. Andererseits sieht Kaelble (2000: 2650<br />
durchaus und sich mehrende Anzeichen für die<br />
Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft,<br />
und zwar in der Herausbildung von einer Vielzahl<br />
von europäischen Netzwerken, etwa „von<br />
Stadtoberhäuptern ebenso wie von Rektoren, von<br />
Regionen ebenso wie von Berufsverbänden, von<br />
Wohlfahrtsverbänden ebenso wie von Menschenrechtsorganisationen.<br />
Es bildeten sich Europäische<br />
Ligen und Sportverbände, europäische Kulturinitiativen,<br />
wissenschaftliche Netzwerke zwischen<br />
einzelnen Universitäten und Forschungsinstituten<br />
(...)" und vieles andere mehr.<br />
An dieser Beobachtung ist sicherlich richtig,<br />
dass die Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft<br />
in Europa sich nicht genau in<br />
denselben Bahnen - auch organisatorischen<br />
Bahnen - vollziehen muss wie auf nationalstaatlicher<br />
Ebene. Auch scheint uns viel dafür<br />
zu sprechen, in der Bildung von Netzwerken<br />
zwar teils eine Frühform späterer, strafferer<br />
Organisiertheit zu sehen, andererseits aber auch<br />
eine Assoziationsform, die nicht nur dem jetzigen<br />
Integrationsgrad der Europäischen Union,<br />
sondern dem kulturellen Pluralismus Europas<br />
in besonderer Weise angemessen ist.<br />
Schließlich sei noch eine kleine Beobachtung<br />
aus dem eigenen beruflichen Umfeld angefügt:<br />
Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer,<br />
der ich angehöre, schickt sich an, auf<br />
die Gründung einer Europäischen Staatsrechtslehrervereinigung<br />
hinzuwirken, was als ein nur