Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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46 Christoph O. Meyer<br />
Sunday Times, der Liberation, Le Soir und des<br />
Guardian.<br />
Diese Gruppe war in ihrer Zusammensetzung,<br />
Kohäsion und Funktionsweise ein Novum in<br />
der Geschichte des Brüsseler EU-Journalismus.<br />
Ihre Mitglieder aus fünf Ländern telefonierten<br />
fast täglich miteinander, trafen sich regelmäßig<br />
mit neuen Informanten und tauschten wichtige<br />
Dokumente aus. Was ein Einzelner nicht hätte<br />
leisten können, nämlich eine weitläufige, verschiedene<br />
Sprachräume und Netzwerke übergreifende<br />
Recherche, wurde durch die Selbstorganisation<br />
der Journalisten möglich. Gleichzeitig<br />
koordinierte die Gruppe ihre Veröffentlichungen,<br />
die zumeist am Sonntag mit der Sunday<br />
Times eingeleitet wurden und am Montag ihren<br />
Höhepunkt fanden. Damit setzte sie nicht nur<br />
die Kommission unter Druck, sondern bestimmten<br />
auch die Nachrichtenagenda der anderen,<br />
anfänglich überwiegend skeptischen EU-Journalisten<br />
in Brüssel für den Rest der Woche.<br />
3.2 Investigationsjournalismus und<br />
das Europäische Parlament<br />
Bemerkenswert ist auch die Zusammenarbeit<br />
der Journalisten mit kommissionskritischen<br />
EU-Parlamentariern. Auf der einen Seite konnten<br />
Journalisten diese vereinzelten Parlamentarier<br />
zur Erhöhung der Außenwirkung und<br />
zur Absicherung der Berichterstattung zitieren.<br />
Zum anderen legitimierte die umfängliche<br />
Medienberichterstattung die Position jener EU-<br />
Parlamentarier, die sich in ihren Ausschüssen<br />
und Parteien traditionell in einer deutlichen<br />
Minderheitenposition befunden hatten. Die<br />
wenig kooperative, teilweise irreführende,<br />
teilweise feindliche Reaktion der Kommission<br />
auf die Anschuldigungen trug entscheidend<br />
dazu bei, dass immer mehr der skeptischen<br />
Parlamentarier und Journalisten umschwenkten.<br />
So schaukelten sich Medien und Parlament<br />
gegenseitig auf, bis die Kräfteverhältnis<br />
se kippten, zuerst im Pressesaal und dann im<br />
EU-Parlament. Wer ein guter Journalist oder<br />
Parlamentarier sein wollte, musste der Kommission<br />
gegenüber eine kritische Haltung einnehmen.<br />
Diese überwiegende Wahrnehmung einer<br />
schwerwiegenden Normverletzung setzte sich<br />
jedoch nur recht zögerlich durch und wurde<br />
auch am Ende der Affäre längst nicht von allen<br />
Journalisten und Parlamentariern geteilt.<br />
Insbesondere lassen sich Wahrnehmungsunterschiede<br />
zwischen nord- und mitteleuropäischen<br />
Akteuren auf der einen und südeuropäischen<br />
Beobachtern auf der anderen Seite ausmachen.<br />
Als symptomatisch erscheinen die Unterschiede<br />
zwischer der deutschen und der spanischen<br />
Interpretation der Vorwürfe (siehe auch Trenz<br />
2000). Zwar gerieten die Apologeten der Kommission<br />
in der Presse zunehmend in die Defensive,<br />
im EU-Parlament allerdings zeigte sich<br />
das Plenum bei der Abstimmung über das Misstrauensvotum<br />
am 14. Januar 1999 gespalten<br />
entlang einer Nord-Süd-Line. Von den 99 deutschen<br />
MEPs stimmen 90 Prozent für das Misstrauensvotum,<br />
unter den Belgiern, Dänen,<br />
Schweden und Holländern waren rund zwei<br />
Drittel dafür. Auf der anderen Seite lehnten 98<br />
Prozent der spanischen, 87 Prozent der italienischen<br />
und 80 Prozent der portugisieschen<br />
Abgeordneten das Votum ab (Europäisches Parlament<br />
1999).<br />
Trotz dieser Einschränkungen im Bezug auf<br />
das transnationale ,framing' einer politischen<br />
Normverletzung in der öffentlichen Debatte,<br />
waren die Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse<br />
im EP einschneidend genug, um<br />
mit der Entlastung des Haushaltes und dem<br />
Misstrauensvotum zwei Verfahren zu aktivieren,<br />
deren politische Relevanz als Druckmittel<br />
nur wenig Monate zuvor als äußerst zweifelhaft<br />
schien. Der Fall zeigt, dass ein relativ<br />
geringes Ausmaß an transnationaler Verbrei-<br />
Europäische Öffentlichkeit als Watchdog 47<br />
tung von Investigationsjournalismus ausreichen<br />
kann, die etablierte Funktionsweise des Gesamtsystems<br />
nachhaltig zu verändern. Politische<br />
Kontrolle und Verantwortlichkeit konnte<br />
letztlich aber nur im Zusammenspiel verschiedener<br />
Institutionen und Akteure, insbesondere<br />
mit Hilfe des EU-Parlaments verwirklicht werden.<br />
Der Rücktritt der Kommission als Reaktion<br />
auf den Bericht der Unabhängigen Expertengruppe<br />
kann als Endpunkt einer Entwicklung<br />
interpretiert werden, die auf der einen<br />
Seite die Leistungsfähigkeit von transnationaler<br />
Medienöffentlichkeit in Europa dokumentiert,<br />
zum anderen aber die Defizite auf Seiten<br />
der EU-Kommission in der Organisation interner<br />
Verantwortlichkeit und externer Kommunikation<br />
deutlich macht (Meyer 1999). Die<br />
Kommission musste letztlich nicht aufgrund<br />
der Vorwürfe selbst zurücktreten, sondern weil<br />
sie auf die offene Fragen und die Forderung<br />
nach politischer Verantwortlichkeit nicht angemessen<br />
reagiert hat.<br />
4 Die langsame Transformation des<br />
Brüsseler Pressekorps<br />
Trotz des geschilderten Falles einer funktionierenden<br />
Kontrolle politischer Verantwortung<br />
durch transnationale Öffentlichkeit mögen<br />
Skeptiker zu Recht fragen, ob die Veränderungen<br />
in der Berichterstattung dauerhafter Natur<br />
sind. Tatsächlich ist die Fixierung der Medien<br />
auf nationale Ereignisse, Sichtweisen und Akteure<br />
zu stark verwurzelt, als dass grenzüberschreitende<br />
Debatten und Kritik zum Regelfall<br />
würden. Es gibt dennoch deutliche Anzeichen<br />
dafür, dass sich die Rahmenbedingungen für<br />
eine transnational wirksame Medienöffentlichkeit<br />
verbessert haben. Der Echo/Cresson-Fall<br />
markiert den vorläufigen Höhepunkt eines langsamen<br />
Wandels der EU-Berichterstattung von<br />
einem pro-europäischen Informations- und<br />
Lobbyjournalismus zu einer kritischeren Haltung<br />
gegenüber europäischen Institutionen und<br />
Akteuren. Die Hauptursache hierfür liegt in<br />
einer langsamen Veränderung der Nachfragestruktur<br />
im Bezug auf europapolitische Themen:<br />
Über viele Jahre hinweg hatten es die in<br />
Brüssel akkreditierten Journalisten entweder<br />
sehr leicht oder sehr schwer. Aufgrund der geringen<br />
Nachfrage nach den angeblich langweiligen<br />
und wirtschaftslastigen EU-Themen, fiel<br />
es Journalisten leicht, mit geringem Rechercheaufwand<br />
aus dem immer höher anschwellenden<br />
Brüsseler Informationsstrom relevante Nachrichten<br />
herauszufischen. Mühen mussten sich nicht<br />
die Journalisten, sondern die Pressesprecher.<br />
,Spoon-feeding' pflegten angelsächsische Korrespondenten<br />
diese passive Konsumhaltung mit<br />
abfälligen Unterton zu bezeichnen. Schwer dagegen<br />
hatten es vor allem jene Journalisten, die<br />
keine ,Brüsseler Spitzen' mehr über Produktharmonisierung<br />
schreiben mochten, sondern zu<br />
Themen wie Machtmissbrauch und nationale<br />
Seilschaften, Subventionsbetrug und Entscheidungstransparenz<br />
recherchieren wollten.<br />
4.1 Die Aufwertung der EU<br />
Berichterstattung<br />
Seit Anfang der 90er Jahre ist Brüsseler Journalismus<br />
für die erste Gruppe deutlich schwerer,<br />
für die zweite Gruppe dagegen etwas leichter<br />
geworden. Hintergrund ist die Aufwertung<br />
der EU als Thema der Berichterstattung vor<br />
allem in der Presse und der damit verbundenen<br />
Verschärfung der Nachrichtenkonkurrenz<br />
in Brüssel. Im Zuge der Umsetzung des Binnenmarktprogramms<br />
und der Einführung des<br />
Euros erkannten Heimatredaktionen zunehmend,<br />
dass in Europa oft nationale Innenpolitik<br />
betrieben wird. Mehr und mehr nationale<br />
Themen hatten offensichtlich eine europäische<br />
Dimension, während viele EU-Entscheidungen<br />
innenpolitische Wirkungen entfalteten. Die tatsächliche<br />
Bedeutungszunahme von EU-Entscheidungen<br />
seit 1987 spiegelt sich, wenn auch<br />
mit einer gewissen Verzögerung, in der Auf-