Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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PULSSCHLAG<br />
wille zum Gebrauch von Mythen und Symbolen<br />
und Sehnsüchten ist eine wesentliche<br />
politische Entscheidung und nicht nur eine<br />
kulturell bedeutsame. Wenn wir nämlich die<br />
sardische ethno-nationale Gemeinschaft rekonstruieren<br />
bzw. neu gründen wollen, wenn<br />
wir auf eine ethnische Wiedererstarkung abzielen,<br />
dann müssen wir uns, so wie das alle<br />
in der Moderne entstandenen Nationen getan<br />
haben, auch mit Mythen, Symbolen und Sehnsüchten<br />
rüsten, nicht nur mit Technologien.<br />
Denn wenn wahr ist, was A.D. Smith in seinem<br />
,Die ethnischen Ursprünge von Nationen'<br />
sagt, dann ,kann sich in der goldenen<br />
Zeit einer Gemeinschaft ein Bild ihrer Zukunft<br />
oder sogar ein Programm finden lassen...'."<br />
(L'Unione Sarda, 7.5.1996)<br />
In den folgenden Jahren wiederholen sich die<br />
Diskussionen um den nun jährlich veranstalteten<br />
Sardinientag. Liori bleibt einer der engagiertesten<br />
Fürsprecher des Festes. Wie sein<br />
Leitartikel .Gefälschtes Fest für ein echtes<br />
Volk' von 1998 zeigt, gewinnt seine Argumentation<br />
sogar noch an Eindeutigkeit: „(...)<br />
wir sind ein einziges Volk, auch wenn wir<br />
unser Fest an einem erfundenen Datum feiern,<br />
um uns an etwas zu erinnern, das es nicht<br />
wert ist. Und ich weiß, dass nicht das Wahre,<br />
sondern das Wahrscheinliche zählt, nicht die<br />
Wahrheit ist wichtig, sondern ihre Darstellung."<br />
(L'Unione Sarda, 29.4.1998)<br />
Das dargestellte Plädoyer für das Fest der Sarden<br />
und die ,sarditä' besitzt zunächst jene<br />
Züge, die aus vielen anderen Nationalismen<br />
und Ethnoregionalismen wohl bekannt sind.<br />
Es beschwört die Gleichheit einer historisch<br />
und kulturell begründeten Volksgemeinschaft,<br />
die eine Sprache spreche - „Gleiches Volk,<br />
gleiche Leute, gleiche Sprache, ein einziges<br />
.Fühlen'" (L'Unione Sarda, 30.4.1996), und<br />
es präsentiert die Feier des Sardinientages als<br />
eine familienartige Erfahrung, die aufzeige,<br />
<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 14, Heft 4, 2001<br />
dass die Gemeinsamkeit stärker als Klassenund<br />
sonstige Unterschiede sei - „für einen<br />
Tag (und wir hoffen für immer) lassen wir<br />
den Neid sein, der uns umbringt und (...) zu<br />
Feinden macht." (L'Unione Sarda, 27.4.1997).<br />
Der Sardinientag gilt so als ein erfolgreicher<br />
Katalysator nationalen Selbstbewusstseins,<br />
als Erfahrung und Bewusstwerdung grundsätzlicher<br />
Einheit, Gemeinsamkeit und Gemeinschaft.<br />
Die nach außen hin eingeforderte<br />
Differenz wird dabei nach innen durch die<br />
Verpflichtung auf ein einheitliches kulturelles<br />
Modell negiert.<br />
2 Reflektierte Identitätskonstruktion und<br />
strategischer Essentialismus<br />
Die skizzierte Argumentation legt ihr Gewicht<br />
ganz auf die Gegenwart und die Zukunft. Das<br />
historische Ereignis hingegen liefert lediglich<br />
den Anlass zum kollektiven Ritual, die Frage<br />
seiner Authentizität oder Fiktionalität spielt<br />
nur eine geringe Rolle. Nicht die historische<br />
Wirklichkeit ist von Bedeutung, sondern der<br />
Gemeinschaftsgefühle stiftende Effekt des<br />
Mythos. Damit besitzt diese Position zugleich<br />
etwas Merkwürdiges. Offen ausgesprochen<br />
wird nämlich der Mechanismus, der zahllosen<br />
solcher sich als Feiern eines authentischen<br />
Ereignisses darstellenden nationalen oder regionalen<br />
Feste zugrunde liegt, dabei aber implizit<br />
bleibt. Hier nun wird er als öffentliches<br />
Argument für das nicht unumstrittene Fest<br />
und die Stiftung sardischer Identität hervorgeholt.<br />
Dadurch erscheint Lioris Argumentationsfigur<br />
zunächst paradox, ja beinahe zynisch. Sie<br />
stellt die Frage, welchen Sinn eine solche sich<br />
selbst offen als Konstruktion präsentierende<br />
Identitätskonstruktion überhaupt machen<br />
kann. Einerseits schwächt das Eingeständnis<br />
der Fiktionalität und des mythischen Charakters<br />
von historischen Symbolen sicherlich ihre<br />
Wirkungskraft, da das Berufen auf deren<br />
Wahrheit und Objektivität - oder der einfa-<br />
<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 14, Heft 4, 2001 87<br />
PULSSCHLAG<br />
che Glaube daran -- zweifelsohne eine wichtige,<br />
insbesondere Emotionen generierende,<br />
Ressource darstellt. Andererseits, das zeigt der<br />
beschriebene Fall deutlich, ist das Eingeständnis<br />
der Fiktionalität allerdings eine geschickte<br />
Argumentationsfigur, die jegliche historisch-wissenschaftlich<br />
begründete Kritik am<br />
Wahrheitsgehalt solcher Projekte als irrelevant<br />
erklärt, während jenseits der entlarvten<br />
Mechanismen des Nationalismus der Glaube<br />
unberührt bleibt, dass es ein geteiltes Gefühl<br />
,sardisch zu sein' (L'Unione Sarda, 29.4.1998)<br />
gebe. Die Entlarvung der Mechanismen des<br />
Nationalismus stört also nicht Lioris Glauben<br />
an die Nation - den religiösen Kern des<br />
Nationalismus (Stölting 1985) -, sondern sie<br />
erlaubt ihm vielmehr, diese Mechanismen nun<br />
reflektiert, planvoll und strategisch einsetzen<br />
zu wollen, um durch sie das gewünschte nationale<br />
Gefühl hervorzubringen und zu verstärken.<br />
Nationalismus erscheint hier also in<br />
einer aufgeklärt wirkenden Version, die mythische<br />
Anteile anerkennt, jedoch am Glauben<br />
an ein einheitliches Volk, das sich gegenwärtig<br />
eventuell nicht einmal selbst erkennt,<br />
unverändert festhält.<br />
Der dargestellte Fall erlaubt daher einige Uberlegungen<br />
hinsichtlich der Konstruktion kollektiver<br />
Identitäten unter den Bedingungen des<br />
in den Sozialwissenschaften herrschenden Paradigmas<br />
des <strong>Soziale</strong>n Konstruktivismus (Hacking<br />
1999; Knorr-Cetina 1989). Während die<br />
offensichtliche Allgegenwart von sich auf kollektive<br />
Identitäten berufenden <strong>Bewegungen</strong><br />
zunächst nahe legt, dass Wissenschaft und Praxis<br />
in dieser Beziehung zwei getrennte Welten<br />
sind, weist der untersuchte Fall auf Zusammenhänge<br />
hin. Solche Zusammenhänge erscheinen<br />
ja auch unvermeidlich, denkt man etwa an Giddens<br />
Überlegungen zur Reflexivität der Moderne<br />
(Giddens 1995: 56), die unter anderem<br />
dadurch geprägt sei, dass der sozialwissenschaftliche<br />
Diskurs in die von ihm analysierten<br />
Kontexte selbst wieder Eingang finde, oder<br />
an Bourdieus Gedanken zu den mit der Macht<br />
der Benennung verbundenen sozialen und politischen<br />
Effekten, denen sich die Sozialwissenschaft<br />
ohnehin nicht entziehen könne<br />
(Bourdieu 1991: 225).<br />
Der zumeist in kritischer Absicht durchgeführte<br />
Nachweis des Konstruktionscharakters<br />
kollektiver Identitäten und der Mechanismen<br />
ihrer Konstruktion 3<br />
scheint also auch paradoxe<br />
Konsequenzen hervorzubringen, nicht nur,<br />
da er - wie Niethammer (2000: 54) betont -<br />
von seiner fruchtbaren dekonstruktivistischen<br />
Intention in eine Beratungsindustrie für<br />
Images und Identitäten umgeschlagen ist, sondern<br />
da er zur technischen Aufrüstung von<br />
Identitätspolitiken dienen kann und ein Muster<br />
ihrer Legitimation liefert. Warum soll eine<br />
regionalistische Politik eigentlich nicht mit<br />
solchen Mythen arbeiten, die - wie in einer<br />
immer größeren Zahl detaillierter Untersuchungen<br />
aufgezeigt - anderen Nationalismen<br />
und Regionalismen zu Erfolg verholfen haben?<br />
Das sardische Beispiel scheint daher auf<br />
eine eigentümlich Dialektik steigender gesellschaftlicher<br />
Reflexivität in diesem Feld hinzuweisen:<br />
Zwar wird der Glaube an die Wahrheit<br />
überhistorischer kollektiver Einheiten und<br />
insbesondere an deren historische Symbolik<br />
erschüttert, doch die Kenntnis der Konstruktionsmechanismen<br />
kollektiver Identitätsvorstellungen<br />
führt nicht unbedingt zur Überwindung<br />
essentialistisch verstandener kollektiver<br />
Identität, sondern ebenfalls zu einer neuartigen<br />
und reflektierten Form der Konstruktion<br />
von Identität. Diese neuen Identitätskonstruktionen<br />
können sogar zu regelrechten<br />
strategischen Essentialismen (Spivak 1996)<br />
führen, zu strategisch begründeten Verbindungen<br />
aus der Reflexion der Mechanismen<br />
von Identitätskonstruktionen und dem Beharren<br />
auf für die Realisierung politischer Ziele<br />
als notwendig erachteten essentialistisch vorgestellten<br />
Kollektividentitäten. Die Lega