Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
14 <strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 14, Heft 4, 2001<br />
Jo Leinen<br />
Regieren in Europa - Mit oder ohne Bürger?<br />
Die Debatte über Bürgerschaft und Demokratie<br />
in der Europäischen Union steht aktuell auf<br />
der politischen Agenda der Europa-Politik. Das<br />
Nein der Bevölkerung in Irland zum Nizza-<br />
Vertrag wirkte in Brüssel wie ein Schock. Dieses<br />
Referendum zeigt Probleme, über die vertieft<br />
nachgedacht werden muss. 65 Prozent der<br />
irischen Bevölkerung gingen erst gar nicht zur<br />
Volksabstimmung. Offensichtlich hat sie der<br />
Nizza-Vertrag nicht interessiert oder sie waren<br />
schlecht über die Bedeutung dieses Projekts<br />
informiert. Immerhin sollte dieser Vertrag das<br />
größte politische Projekt in diesem Jahrzehnt<br />
ermöglichen: Die Osterweiterung der EU. In<br />
den Umfragen des Euro-Barometers lässt sich<br />
ebenfalls eine zunehmend skeptische Einstellung<br />
der Bürgerinnen und Bürger zur Europäischen<br />
Union feststellen. Die Bevölkerung will<br />
zwar, dass Europa die großen Probleme löst.<br />
Sie ist jedoch sehr verunsichert gegenüber den<br />
Europäischen Institutionen, da das Regierungssystem<br />
in Brüssel für den Normalbürger nur<br />
schwer zu verstehen ist.<br />
1 Konstruktionsfehler der<br />
Europäischen Einigung<br />
Die Ursache für diese negative Einstellung der<br />
Öffentlichkeit liegt in einem Konstruktionsfehler<br />
der Europäischen Einigung. Wir haben es<br />
bis heute mit einem Europa der Regierungen<br />
und nicht mit einem Europa der Bürger zu tun.<br />
Europaverträge werden hinter verschlossenen<br />
Türen zwischen Regierungen ausgehandelt.<br />
Eine öffentliche Debatte ist kaum möglich. Die<br />
Parlamente können nachträglich lediglich ja<br />
oder nein sagen. Änderungen an den Verträgen<br />
sind nicht machbar. Europapolitik funktioniert<br />
immer noch nach den diplomatischen Gepflogenheiten<br />
der Außenpolitik. Botschafter und<br />
Regierungsvertreter tagen im Ministerrat hinter<br />
verschlossenen Türen, beschließen aber dort<br />
Gesetze, die das Alltagsleben der Bevölkerung<br />
beeinflussen. Dabei ist Europapolitik schon<br />
längst Innenpolitik geworden und müsste deshalb<br />
nach den Kriterien der parlamentarischen<br />
Demokratie funktionieren.<br />
Der intergouvernementale Charakter der Europapolitik<br />
spiegelt sich in 30 Verfahren wider,<br />
mit denen die verschiedenen Politikbereiche<br />
auf der Brüsseler Ebene geregelt werden.<br />
Mal ist die Einstimmigkeit nötig, mal die qualifizierte<br />
Mehrheit, mal wird nur ein gemeinsamer<br />
Standpunkt gesucht oder eine Empfehlung<br />
ausgesprochen. Die Kompliziertheit der<br />
Prozeduren zur Findung eines europäischen<br />
Konsenses führt dann auch zu einer Undurchsichtigkeit<br />
der Entscheidungsprozesse und der<br />
Verantwortlichkeiten. Diese Neheim-Diplomatie'<br />
bringt es mit sich, dass ein offener politischer<br />
Diskurs in den meisten Fällen nicht stattfindet<br />
und erst im nachhinein Kritik und Alternativbeiträge<br />
formuliert werden können.<br />
Das Europa der Regierungen mag für die Herstellung<br />
des gemeinsamen Binnenmarktes ausreichend<br />
gewesen sein. Dort wurden im wesentlichen<br />
technische Harmonisierungen vorgenommen,<br />
obwohl auch diese einen politischen<br />
Charakter besitzen. Für die Währungsunion<br />
war dieser Ansatz schon nicht mehr ak-<br />
Regieren in Europa - Mit oder ohne Bürger? 15<br />
zeptabel. Die Bürgerinnen und Bürger hätten<br />
die Möglichkeit erhalten müssen, ja oder nein<br />
zu diesem historischen Projekt zu sagen. Für<br />
die jetzt anstehende politische Union ist der<br />
intergouvernementale Ansatz regelrecht kontraproduktiv.<br />
Bürgerfragen wie der Umweltschutz,<br />
der Verbraucherschutz oder viele Regelungen<br />
in der Sozialpolitik können nicht von<br />
oben nach unten, sondern nur von unten nach<br />
oben diskutiert und entschieden werden.<br />
Das Europa der Bürger findet sich zwar in<br />
allen Sonntagsreden zur europäischen Einigung.<br />
Die Realisierung dieses Projekts steckt<br />
allerdings noch in den Kinderschuhen. Zur Zeit<br />
sind zwei Ansätze auf den Weg gebracht, diese<br />
Idee voranzutreiben. Einmal handelt es sich<br />
um das Weißbuch der Europäischen Kommission<br />
über ,Gutes Regieren' in Europa, zum<br />
anderen um den sogenannten ,Post Nizza Prozess'<br />
und die Debatte über die Zukunft der<br />
EU.<br />
Wir erleben zudem eine interessante Phase der<br />
Europapolitik: die Zeit der großen Europareden<br />
- beginnend mit dem Vortrag von Bundesaußenminister<br />
Joschka Fischer vor der Humboldt<br />
Universität Berlin bis zu all den Europareden<br />
anderer Staatsmänner und großer Persönlichkeiten<br />
und ihren Entwürfen für Europas<br />
Zukunft. In dieser Debatte muss jetzt geklärt<br />
werden, ob Europa nur eine Freihandelszone<br />
sein soll oder eine politische Union. Wichtig<br />
ist auch die Klärung des europäischen Gesellschaftsmodells<br />
in Zeiten der Globalisierung.<br />
2 Wege zur Europäischen<br />
Föderation<br />
Nach meiner festen Überzeugung reicht ein<br />
Europa der Regierungen oder ein Europa des<br />
Marktes nicht aus. Dies wäre ein sehr brüchiges<br />
Projekt, das permanent vom Zerfall und<br />
vom Rückfall in alte Nationalismen oder Block<br />
bildungen bedroht ist. Wir brauchen jetzt den<br />
entscheidenden Schritt zu einem Europa der<br />
Bürger und einer Europäischen Föderation. Um<br />
dieses Ziel zu erreichen, sind mehrere Instrumente<br />
nötig:<br />
Die Europäische Union braucht ein Basisdokument,<br />
das Klarheit über die Ziele der europäischen<br />
Einigung, die Rechte der Bürgerinnen<br />
und Bürger, die Kompetenzen der verschiedenen<br />
Regierungsebenen und die Rolle der Institutionen<br />
enthält. Die bisherigen Europaverträge<br />
haben diese Klarheit nicht herstellen können.<br />
Notwendig ist jetzt die Debatte über eine<br />
Europäische Verfassung. Statt der ca. 1000 Artikel<br />
in den sechs Europaverträgen würden ca.<br />
100 Grundsatzartikel ausreichen, um der EU<br />
einen festen politischen Rahmen zu geben.<br />
Besonders wichtig ist eine neue Methode, um<br />
eine solche Verfassung auszuarbeiten. Eine Verfassung<br />
kann nicht allein von Regierungen ausgearbeitet<br />
werden, sondern braucht die Beteiligung<br />
der Parlamente als Vertreter der Bürgerinnen<br />
und Bürger und einen aktiven Dialog<br />
mit der Zivilgesellschaft. Der Kampf für einen<br />
Verfassungs-Konvent ist eines der wichtigen<br />
Ziele, um Öffentlichkeit, Bürgerschaft und Demokratie<br />
in Europa herzustellen.<br />
Ein zweiter strategischer Pfeiler ist die Klärung<br />
des .Regierungssystems' auf europäischer<br />
Ebene. Als Ergebnis des Europas der Regierungen<br />
haben wir eine Herrschaft der Räte.<br />
Die verschiedenen Ministerräte und ihre Untergruppen<br />
formieren eine diplomatisch-bürokratische<br />
Verfasstheit der EU. Auf dem Weg<br />
zu einem Europa der Bürger muss es jedoch<br />
gelingen, eine demokratisch-parlamentarische<br />
Verfasstheit der EU zu erreichen. Nicht die<br />
Ministerräte, sondern die von den Bürgerinnen<br />
und Bürgern gewählten Parlamente müssen im<br />
Zentrum der Legitimation von politischer<br />
Macht auf EU-Ebene stehen. Mit dieser Zielsetzung<br />
führt kein Weg daran vorbei, das Eur-