Vollversion (7.43 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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LITERATUR<br />
Die insgesamt skeptischen bis negativen Einschätzungen<br />
der NGO-Praxen für eine Demokratisierung<br />
schlagen sich bei den meisten<br />
Beiträgen des Sammelbandes in einer politischen<br />
Position nieder, die den Widerstand radikaler<br />
sozialer <strong>Bewegungen</strong> als Dreh- und Angelpunkt<br />
sozialer Prozesse positiv hervorhebt.<br />
Aber auch hier bleiben spannende Fragen offen.<br />
Zum Beispiel die konfliktive Beziehung<br />
von institutioneller Einbindung in herrschende<br />
Strukturen und der Notwendigkeit, sozialen<br />
Widerstand zu institutionalisieren. Nicht nur<br />
um Kontinuität des Widerstands und die Geschichte<br />
der sozialen <strong>Bewegungen</strong> zu bewahren,<br />
sondern auch um eigene Formen der Vergesellschaftung<br />
kollektiv zu entwickeln. Die<br />
damit unmittelbar verbundene Frage nach der<br />
Rolle des Staates kommt ebenfalls zu kurz.<br />
Denn auch wenn eine instrumentalistische<br />
Konzeption des Staates abgelehnt und die Gefahr<br />
der Institutionalisierung von Widerstand<br />
in herrschaftliche Praxen hervorgehoben wird,<br />
wird eine generelle Verweigerung der Kooperation<br />
nicht formuliert und das entstandene<br />
Spannungsfeld nicht theoretisch aufgearbeitet.<br />
Darüber hinaus sticht der männliche Charakter<br />
des Buches hervor. Nicht nur dass es keine<br />
Autorin gibt, auch finden sich in keinem Beitrag<br />
geschlechtsspezifische Überlegungen und<br />
das, obwohl sich eine wissenschaftlich feministische<br />
Staats- wie Gesellschaftstheorie etabliert<br />
hat und politisch NGOs, die zu geschlechtsspezifischen<br />
Feldern arbeiten, eine<br />
breite Rolle einnehmen.<br />
Ingo Stützte, Berlin<br />
Besprochene Literatur<br />
Brand, UlrichlDemirovic, AlexlGörg, Christoph<br />
et al. (Hg.) 2001: Nichtregierungsorganisationen<br />
in der Transformation des Staates,<br />
Münster: Westfälisches Dampfboot.<br />
<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 14, Heft 4, 2001<br />
Wie rechtsextrem ist die<br />
Mitte?<br />
Die Welle fremdenfeindlicher Gewalt ab 1991<br />
und ihre negative in- und ausländische Resonanz<br />
zwangen die etablierten Parteien dazu<br />
Stellung zu beziehen. Aus dem Feld dieser<br />
vielfältigen Stellungnahmen greift Heinz Lynen<br />
von Berg für seine Arbeit, eine von Wolf-<br />
Dieter Narr (FU Berlin) und Helmut Müller<br />
(TU Berlin) betreute Dissertation, die Parlamentsdebatten<br />
der Jahre 1990-94 heraus, da er<br />
diesen nach wie vor eine zentrale Bedeutung<br />
für die politische und normative Orientierung<br />
der Bevölkerung zumisst. Diese Wahl ist vertretbar,<br />
auch wenn heute die mediale Verbreitung<br />
von Politikeräußerungen auf Pressekonferenzen<br />
oder in Interviews eine größere Öffentlichkeit<br />
erreichen dürfte. In jedem Fall ist<br />
es für die Analyse von Rechtsextremismus,<br />
insbesondere für Fragen seiner Eskalation und<br />
Akzeptanz/Ablehnung in der Bevölkerung<br />
wichtig, die politischen Reaktionen einzubeziehen,<br />
da sich hier - wie allein der Extremismusbegriff<br />
zeigt - Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse<br />
vollziehen, an denen das<br />
politische System zentral mitwirkt. Der Autor<br />
beschränkt sich auf die Analyse des Diskurses<br />
im politischen System, über etwaige Wirkungen<br />
auf die Diskurse in Medien, Bevölkerung<br />
oder gar im rechten Lager wird nichts ausgesagt.<br />
Damit bleibt die These, dass der symbolischen<br />
Verarbeitung des Rechtsextremismus und<br />
der fremdenfeindlichen Gewalt im Parlament<br />
für die Legitimation der Abgrenzung und sozialen<br />
Kontrolle eine herausragende Bedeutung<br />
zukommt, zwar plausibel, kann aber aufgrund<br />
des Untersuchungsansatzes nicht belegt werden.<br />
Die vorliegende Arbeit analysiert Bundestagsreden,<br />
wobei durch die Beschränkung auf die<br />
beiden Volksparteien, die konservative Regie-<br />
<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 14, Heft 4, 2001<br />
rungspartei (CDU/CSU) und die ,linke' Oppositionspartei<br />
(SPD), natürlich vor allem der<br />
meinungsführende Mainstream abdeckt wird,<br />
was zwar die Übersichtlichkeit der Darstellung<br />
erhöht, aber eventuell die Breite der vorgebrachten<br />
Argumente einschränkt. Sieht man<br />
aber auf die Wirkung, dann waren die wenigen<br />
Bündnis90/Die Grünen- und die PDS/Linke<br />
Liste-Abgeordneten im 12. Bundestag wohl zu<br />
vernachlässigen. Die Analyse konzentriert sich<br />
auf die Argumentationsmuster, in denen der<br />
Rechtsextremismus gedeutet und vergangene<br />
wie zukünftige Handlungen ihm gegenüber<br />
legitimiert werden.<br />
Methodisch wählt Lynen von Berg einen qualitativen<br />
Ansatz, indem er zur Analyse der Reden<br />
mehrere Verfahren der interpretativen Sozialforschung<br />
(Deutungsmuster-, Dokumenten-<br />
und Diskursanalyse) kombiniert und durch<br />
eine quantitative Auswertung ergänzt, womit<br />
die Gefahr gebannt werden soll, einige passende'<br />
Textstellen zum ,Diskurs' zu erklären,<br />
ohne ihren quantitativen Anteil zu erfassen,<br />
und abweichende Argumentationen zu ,übersehen'.<br />
Angesichts der umfangreichen Textbasis<br />
hat der Autor ein eigenes Analyseverfahren<br />
entwickelt, das neben den Diskursen im<br />
engeren Sinne auch deren institutionelle Konstruktionsmechanismen<br />
sowie weitere gesellschaftliche<br />
Kontexte erfassen soll. Ergänzt<br />
wurde die Dokumentenanalyse durch ,semistrukturierte'<br />
Interviews mit Abgeordneten,<br />
Referenten u.a. Mit diesem Vorgehen kann<br />
Lynen von Berg den symbolischen Kampf um<br />
die Durchsetzung von Deutungen im Parlament<br />
in seinen Dimensionen gut rekonstruieren.<br />
Was sagt das Parlament?<br />
Der empirische Teil umfasst fünf Kapitel, in<br />
denen zentrale Dimensionen des Themas<br />
jeweils aus der Sicht der Union und der SPD<br />
dargestellt werden: die Beschreibung der Tä<br />
LITERATUR<br />
terseite, die Beschreibung der Opfergruppen<br />
fremdenfeindlicher Gewalt, der Umgang mit<br />
den Reaktionen aus dem Ausland, die historische<br />
Bezugnahme auf die Weimarer Republik<br />
und die NS-Vergangenheit sowie schließlich<br />
die Ursachenzuschreibungen für Rechtsextremismus<br />
und Gewalt. Die einzelnen interessanten<br />
Einsichten der sorgfältigen Diskursanalysen<br />
zeigen, wie sehr die Argumente stets durch<br />
übergreifende politische Ziele, ideologische<br />
Grundorientierungen, Parteienkonkurrenz und<br />
Wählerrücksichten und weniger durch einen<br />
unmittelbaren Problembezug gesteuert werden.<br />
So wird etwa in der Frage der Ursachen für<br />
fremdenfeindliche Gewalt von der CDU/CSU<br />
das ,ungelöste Asylproblem', also ihr damaliges<br />
politisches Ziel als Regierungspartei favorisiert,<br />
um damit politischen Druck auf die SPD<br />
auszuüben, während Ausländerfeindlichkeit als<br />
Ursache negiert wird, da sie in dieser Argumentation<br />
als Folge des ungelösten Asylproblems<br />
angesehen und so partiell gerechtfertigt<br />
würde. Damit erscheint die SPD durch ihre<br />
(damalige) Weigerung, eine Änderung des<br />
Asylrechts mitzutragen, als der eigentliche<br />
Verursacher der rechtsextremen Gewaltwelle.<br />
Die SPD-Opposition wiederum präferiert als<br />
Erklärung sozio-ökonomische Krisen und gesellschaftliche<br />
Desintegrationserscheinungen,<br />
für die sie die Regierungspolitik verantwortlich<br />
macht.<br />
Das Argumentationsprofil der beiden Parteien<br />
erscheint grundsätzlich von ihrer Stellung als<br />
Regierung bzw. Opposition sowie von ihren<br />
ideologischen Grundpositionen her bestimmt.<br />
Die Union argumentiert machtstrategisch und<br />
staatspolitisch, indem sie Rechtsextremismus<br />
in einem dramatisierenden Diskurs als Gesetzgebungsproblem<br />
(Asylrecht) definiert, ihn<br />
andererseits in seiner Bedeutung relativiert,<br />
indem sie auf die vorgeblich ausländerfreundliche<br />
Haltung der Bevölkerung hinweist, die<br />
Schuld bei den Flüchtlingen sucht (,Asylbe-