Nachruf - Welcker-online.de
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terreichische Antlitz auf Schritt und Tritt, in je<strong>de</strong>r halbschlächtigen Handlung,<br />
in je<strong>de</strong>r mißratenen Lebensäußerung in je<strong>de</strong>r luschen An<strong>de</strong>utung zu erkennen,<br />
und wenn ich Gesichter brauchte, so waren sie mir zum Hineingreifen<br />
nah. Einmal, auf einem Bahnhofe bei Wien, habe ich das österreichische<br />
Antlitz an einem Kassenschalter gesehen. Der war vorher zwei Stun<strong>de</strong>n lang<br />
herabgelassen, eine fünfhun<strong>de</strong>rtköpfige Schafsher<strong>de</strong> von Wienern stand geduldig,<br />
es waren nur noch zehn Minuten bis zum Eintreffen <strong>de</strong>s Zuges, <strong>de</strong>r die<br />
einstündige Verspätung wahrscheinlich hoffentlich hereingebracht haben<br />
dürfte. Nichts rührte sich, bis ich, mit meinem Stock eine Anregung gab. Da<br />
ging <strong>de</strong>r Schalter in die Höhe und ein Gesicht von außeror<strong>de</strong>ntlicher Unterernährtheit<br />
zeigte sich, wie ich es in <strong>de</strong>r Sättigung eines teuflischen Behagens<br />
noch, nie geschaut habe, und ein dürrer Finger, <strong>de</strong>r hin— und herfahrend<br />
<strong>de</strong>m Leben alle Hoffnung vor diesem Höllentor nahm, ward sichtbar, und ich<br />
weiß nicht mehr, war es Finger o<strong>de</strong>r Blick o<strong>de</strong>r wirklich eine Stimme, die da<br />
rief — ich hörte die Worte: »Wird kane Koaten ausgeben! Wird kane Koaten<br />
ausgeben!« Es war <strong>de</strong>r Auftakt zur österreichischen Revolution: die Wiener<br />
begannen zu toben, es bil<strong>de</strong>ten sich Gruppen, ein Eingeweihter gab seine Bereitwilligkeit<br />
kund, alle durch ein Hintertürl auf <strong>de</strong>n Perron zu fahren. Das geschah,<br />
<strong>de</strong>r Zug kam, war so übervoll, daß es auf die Fünfhun<strong>de</strong>rt auch nicht<br />
mehr ankam, sie fuhren ohne Koaten, und aus <strong>de</strong>m Gemenge ächzen<strong>de</strong>r Menschenleiber<br />
unterschied ich nur die Stimmen zweier Revolutionäre: »Vurn is<br />
leer, und mir hat <strong>de</strong>r Kondukteur befohlen, hinten einizusteigen« und: »Mir<br />
hat er befohlen, vurn einizusteigen, so hab ich halt <strong>de</strong>nkt, hinten wirds leer<br />
sein.« Ich sah kein Antlitz, aber es war das österreichische. Und immer wer<strong>de</strong><br />
ich <strong>de</strong>n Finger sehn, vor allem was im Leben unerreichbar ist und dann<br />
schließlich doch geht. Das österreichische Antlitz aber wirkt gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r<br />
Unsichtbarkeit. Seh' ich es nicht im Raufhan<strong>de</strong>l eines Wiener Telephongesprächs,<br />
wenn sie, die ich nicht sehe, mir sagt: »Ja, mir haben Sie die Nummer<br />
nicht gesagt«? Ist es nicht in <strong>de</strong>n Automaten, <strong>de</strong>ren Funktion damit erschöpft<br />
ist, ganz von selbst Geldstücke einzunehmen? In diesen Taxametern,<br />
<strong>de</strong>nen schon alles wurscht ist, weil <strong>de</strong>r Kutscher, wenn er, nämlich <strong>de</strong>r Taxameter,<br />
einmal funktioniert, ihn eh zu<strong>de</strong>ckt? War es nicht in <strong>de</strong>r ganzen Gangart,<br />
<strong>de</strong>m physischen und seelischen Trott und Getorkel eines von solchem<br />
Staat erzogenen Volkes, in <strong>de</strong>m Anspruch, durch die eigene Wegfreiheit sie<br />
<strong>de</strong>m nächsten zu nehmen; in <strong>de</strong>r Habeas—corpus—Akte <strong>de</strong>r leiblichen Selbstbehauptung<br />
und Belästigung <strong>de</strong>s Nachbarn, in <strong>de</strong>r Verabredung, sich selbst<br />
das Leben so leicht als möglich, und <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn so schwer als nur <strong>de</strong>nkbar<br />
zu machen? In einem Verkehr, <strong>de</strong>r nichts an<strong>de</strong>res war als sein Hin<strong>de</strong>rnis. In<br />
einem Verhältnis zum Recht, das in <strong>de</strong>r Erwartung <strong>de</strong>r Ausnahme, in einer Beziehung<br />
zur Amtlichkeit, die in <strong>de</strong>r Furcht vor »Scherereien« bekun<strong>de</strong>t war.<br />
In einer Geschäftsmoral zwischen Han<strong>de</strong>ln und Wurzen. In <strong>de</strong>n vereinfachten<br />
Formen einer durch artilleristische Überlegenheit geschwächten Nationalökonomie:<br />
einem Notenumlauf, bewirkt durch <strong>de</strong>n Hochdruck einer Staatsraison,<br />
<strong>de</strong>r für je<strong>de</strong> Maßnahme die ethische Be<strong>de</strong>ckung fehlte, und einem Warenaustausch,<br />
<strong>de</strong>r immer mehr durch Diebstahl bewerkstelligt wur<strong>de</strong> und schließlich<br />
<strong>de</strong>m Aufgeben eines Pakets am Postschalter <strong>de</strong>n Charakter eines Verzichts<br />
gab. Nur <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Not war es zu danken, daß es am En<strong>de</strong> nicht mehr<br />
so viele Dinge gab, als gestohlen wur<strong>de</strong>n; gleichwohl wäre auch die raffinierteste<br />
Phantasie nicht imstan<strong>de</strong> gewesen, sich alles das vorzustellen, was einem<br />
in diesem Reich, von ihm selbst abgesehen, gestohlen wer<strong>de</strong>n konnte.<br />
Gesandten wur<strong>de</strong>n die Pässe nach <strong>de</strong>r Kriegserklärung nicht zurückgegeben,<br />
son<strong>de</strong>rn gestohlen, und dann erst nicht zurückgegeben. Im Krieg wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />
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