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Nachruf - Welcker-online.de

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fährt, daß es uns schlecht geht. Daß die Ärmsten <strong>de</strong>r Armen verhungern und<br />

die an<strong>de</strong>rn — zur Not — versorgt sind. Sie genieren sich nicht, für die Bettler<br />

betteln zu gehn, auch wenn's keine Medaille mehr trägt und selbst wenn's keine<br />

Reklame mehr trüge, nur die Wohltat, nichts geben zu müssen; so selbstlos<br />

sind sie. Ihnen die Erbärmlichkeit, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn das Erbarmen. In ihren Zeitungen<br />

wird <strong>de</strong>r Hungertod von Stu<strong>de</strong>nten — die Fälle sind gesucht — zu Stimmungsbil<strong>de</strong>rn<br />

verarbeitet: »Wochenlang datierte dieses stumme Ringen, wochenlang<br />

saß <strong>de</strong>r Arme kraftlos zuhause, sah er unzählige Male auf die Tür ...<br />

Niemand kam, niemand half, nur <strong>de</strong>r Tod schlich herein und schlich langsam,<br />

langsam auf sein Opfer los«, und so starb jener, <strong>de</strong>r durch das Feuilletonhonorar,<br />

das dieser an seinem Hungertod verdient, zu retten gewesen wäre.<br />

Es muß das Klima sein; an<strong>de</strong>rs ist bei <strong>de</strong>n Menschen, die hier <strong>de</strong>n Kulturton<br />

geben und nehmen, dieser unbezähmbare Drang nach seelischer Entblößung<br />

nicht zu erklären und in keiner an<strong>de</strong>rn Zone beobachtet man diese<br />

völlige, ihrer selbst unbewußte, keiner Fliege ein Haar krümmen können<strong>de</strong><br />

Grausamkeit, die sich noch an <strong>de</strong>n Motiven <strong>de</strong>s Mitleids und <strong>de</strong>r Nächstenliebe<br />

vergreift. Sie fühlen vielleicht mehr, wenn sie Blin<strong>de</strong> frozzeln, als wenn sie<br />

Tote beklagen. Aber wenn sie beim Nachtmahl die Statistik <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rleichen<br />

ihrer Stadt lesen und daß sich da »die Kette zusammenschließt, die bei <strong>de</strong>r<br />

Unterernährung beginnt und beim großen Sterben durch Tuberkulose und<br />

Blutarmut en<strong>de</strong>t«, so fühlen sie nicht einmal, daß sie selbst die Kette sind mit<br />

ihrem Han<strong>de</strong>l und Wan<strong>de</strong>l, mit ihrer Presse, mit ihrer tödlichen Moral von Leben<br />

und Lebenlassen. Und während ein Schock ihrer Opfer verscharrt wird,<br />

wälzt sich eine Jauche von Frohsinn durch die Straßen, aus <strong>de</strong>r kein Menschenfischer<br />

einer Seele habhaft wer<strong>de</strong>n kann. Die hier entarten noch in <strong>de</strong>r<br />

Nie<strong>de</strong>rlage. Was hier lebt, wüßte keinen Grund hierfür anzugeben; aber sie<br />

sind von einem nie enttäuschten Wun<strong>de</strong>rglauben berechtigt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Selbsterhaltungstrieb<br />

eine Art Weihe gibt. Sie sind im Krieg nicht von Bomben, son<strong>de</strong>rn<br />

von Flugzetteln heimgesucht wor<strong>de</strong>n, sie überstehen die Revolution, weil<br />

sie überzeugt sind, daß die Bolschewiken — Plural von »<strong>de</strong>r Bolschewiki« —,<br />

<strong>de</strong>ren Problem <strong>de</strong>r Spießbürger aller Kapitalsverbän<strong>de</strong> doch wenigstens in<br />

Angstträumen erlebt, nichts für Wien sind. Sie haben auf Vulkanen getanzt;<br />

sie machen sich's in Kratern kommod. Wie sollte ihnen die Revolution was anhaben,<br />

da sie die österreichische Ordnung aushielten und vor <strong>de</strong>r Weltgeschichte<br />

mit <strong>de</strong>m Merkmal dastehn, »in diesem Wust von Raserei«, im Mittelpunkt<br />

<strong>de</strong>r nationalen Hexenküche es »gemütlich« gefun<strong>de</strong>n zu haben! Wenn<br />

ein Cafétier seinen Entschluß, abzudanken, feierlich wi<strong>de</strong>rruft, so nehmen<br />

sie's als Pfand für die Restauration <strong>de</strong>r Monarchie, und <strong>de</strong>r Untergang <strong>de</strong>s<br />

Wieners vollzieht sich nur wie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hans Styx, <strong>de</strong>r endlos aus <strong>de</strong>r Versenkung<br />

auftaucht, um zu versichern, daß er einst Prinz war von Arkadien. Diese<br />

einzigartige, am höchsten Vorbild geschulte Überlebensfähigkeit erklärt sich<br />

als Gabe, zugleich nach oben und unten, nach <strong>de</strong>r Vergangenheit und nach<br />

<strong>de</strong>r Zukunft <strong>de</strong>n Anschluß nicht zu versäumen. Er kriecht überall hinein, wo<br />

es <strong>de</strong>m ungelenkern <strong>de</strong>utschen Bru<strong>de</strong>r »vorbeigelingt«, und wenn dieser noch<br />

untendurch ist, ist jener schon obenauf. Er hat einen »eisernen Vurrat« von<br />

monarchistischen Vorstellungen, an <strong>de</strong>n er nicht rühren läßt, aber kein<br />

Schlagwort <strong>de</strong>r Entwicklung gibt es, auf das er nicht anbeißt. Dieses Charakterbild<br />

einer in Bewegung geratenen Gallerte, <strong>de</strong>ren Farbenspiel das Entzücken<br />

aller Kulturspezialisten bil<strong>de</strong>t, kommt am <strong>de</strong>utlichsten in <strong>de</strong>r Schamlosigkeit<br />

eines Literatentums zur Erscheinung, das gestern vor <strong>de</strong>m elastischen<br />

Schritt einer Sekundogenitur im Staube lag und sich heute um einen Freiplatz<br />

auf <strong>de</strong>r Barrika<strong>de</strong> bewirbt, das seinen Männerstolz hinter Königsthronen nun<br />

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