Nachruf - Welcker-online.de
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nicht mit nassen Zeitungsfetzen <strong>de</strong>n wittern<strong>de</strong>n Diplomaten hinausjagte, son<strong>de</strong>rn<br />
ihn kandidieren ließ und sich gegen <strong>de</strong>n Heilsboten <strong>de</strong>r Siegestragödien<br />
nicht in einer Revolution entlud, son<strong>de</strong>rn im Abonnement — wenn's dafür eines<br />
Vorbilds bedürfen sollte, so wird man unfehlbar auf das Wiener Auditorium<br />
von besonnenen und ernsten Menschen zurückgreifen, auf die gleichsam<br />
geistig und politisch geschlossene Gesellschaft <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch—österreichischen<br />
Republik. Die nicht nur einen Menschen täglich liest, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache,<br />
<strong>de</strong>r Wahrheit, <strong>de</strong>m Takt, <strong>de</strong>m Gehör, <strong>de</strong>m Geschmack, <strong>de</strong>m Geruch, je<strong>de</strong>m<br />
Nerv, <strong>de</strong>m Magen, <strong>de</strong>m Sack und überhaupt allem was schutzbedürftig<br />
ist, Schmach und Gewalt antut, son<strong>de</strong>rn die auch einen Menschen anhört, <strong>de</strong>r<br />
ihr zum Beweise seiner Kriegsunschuld erzählt, er habe gewußt, daß <strong>de</strong>r<br />
Krieg das infamste Verbrechen sei und <strong>de</strong>r Sieg das größte Unglück, und welche<br />
mit keinem Zwischenruf die von jenem an<strong>de</strong>rn so geschätzte »Laienfrage«<br />
stellt, warum er <strong>de</strong>nn nicht aus seinem Wissen die Konsequenz gezogen 1 und<br />
nicht lieber <strong>de</strong>n dunkelsten Abtritt <strong>de</strong>m Verbleiben im Licht <strong>de</strong>r verantwortlichsten<br />
Stellung vorgezogen habe, warum er Wilson gemeint und Lu<strong>de</strong>ndorff<br />
getan, Kant gesagt und Krupp gemeint, <strong>de</strong>n Weltfrie<strong>de</strong>n gesagt und Brest—Litowsk<br />
getan, zum Zwiespalt von Wort und Tat sich auch <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs<br />
zwischen Wort und Wort schuldig gemacht habe, nie aber <strong>de</strong>r Verleugnung<br />
seiner Tat. Warum er, an<strong>de</strong>rs als Fiesko, nur malte, was an<strong>de</strong>re taten, und an<strong>de</strong>rs<br />
als Czernin, nur meinte, was an<strong>de</strong>re malten, und jene beschimpfte, diese<br />
konfiszieren ließ, so daß sein Mund jenen die Tat absprach und seine Hand<br />
diesen sein eigenes Wort aus <strong>de</strong>m Mund nahm; wenn er aber selbst nicht zu<br />
sprechen wagte, weil Lu<strong>de</strong>ndorff in <strong>de</strong>r Nähe war, sich auf Hertling berief,<br />
<strong>de</strong>r ihm »das Wort aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> nahm«. Aber dies hätte er seinerseits <strong>de</strong>m<br />
Frager besorgt; <strong>de</strong>nn die ganze Haltung <strong>de</strong>r schwanken<strong>de</strong>n Gestalt, die sich<br />
uns wie<strong>de</strong>r naht und zudrängt, nach<strong>de</strong>m sie sich einst <strong>de</strong>m trüben Blick gezeigt,<br />
erklärt er einfach damit, daß er nicht nur von <strong>de</strong>r Katastrophe <strong>de</strong>s<br />
Blutsbündnisses überzeugt war, son<strong>de</strong>rn — und das »kann er ohne Überhebung<br />
sagen« — »dieses Bündnis verteidigt habe, wie sein eigenes Kind«. Bis<br />
zum letzten Blutstropfen, nämlich <strong>de</strong>r seiner Tatkraft sowie Beredsamkeit anvertrauten<br />
Völker. Und das kann er wirklich ohne Überhebung sagen; aber<br />
daß er es auch ohne Reue sagen kann, ist erschreckend. Und warum tat er<br />
so? Warum hat er uns <strong>de</strong>n Glauben an die <strong>de</strong>utschen Siege, <strong>de</strong>n er als Irrwahn<br />
erkannt hatte, ausgebaut und vertieft und solches durch seinen Kumpan<br />
als das Leitmotiv einer unendlichen Melodie uns bis zur Verzweiflung eingeben<br />
lassen? Einfach aus <strong>de</strong>m zweifachen Grun<strong>de</strong>: weil »Deutschland, wenn<br />
wir austraten, <strong>de</strong>n Krieg nicht weiterführen konnte« — scheinbar ein Ziel aufs<br />
innigste zu wünschen, zumal für einen Staatsmann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n herbeiführen<br />
will; aber mit <strong>de</strong>m Wesen eines Blutsbündnisses offenbar nicht zu vereinen<br />
— und dann, weil »bei dieser Situation«, also wenn Deutschland keinen<br />
Krieg mehr führen konnte, »es gar kein Zweifel ist, daß die <strong>de</strong>utsche Heeresleitung<br />
einige Divisionen nach Böhmen und nach Tirol geworfen hätte, um uns<br />
dasselbe Schicksal zu bereiten, wie seinerzeit Rumänien«. Und keiner <strong>de</strong>r besonnenen<br />
und ernsten, geistig und politisch doch geschlossenen Menschen,<br />
die in einem und <strong>de</strong>mselben Satz Deutschlands Waffenstreckung und<br />
Deutschlands Offensive gegen Österreich verknüpft fin<strong>de</strong>n, fragt <strong>de</strong>n Plau<strong>de</strong>rer,<br />
ob er, wenn er vielleicht sagen wolle, daß das besiegte und darum unbeschäftigte<br />
Deutschland zu einer Unternehmung gegen Österreich fähig gewe-<br />
1 Genau wie 1989 die SED-Bonzen erklärten, schon 1982 vom Bankrott <strong>de</strong>r DDR gewußt zu<br />
haben. Die kleinen Genossen beriefen sich darauf, daß auch sie mit Lügen betrogen wor<strong>de</strong>n<br />
seien. Die 15 Millionen zählen<strong>de</strong> Bevölkerung spaltete sich in 15 Millionen Betrogene<br />
und 15 Millionen Wi<strong>de</strong>rstandskämpfer auf.<br />
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