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Nachruf - Welcker-online.de

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Unterschied sein; dann hungern, wie sich's gehört, die Armen. Aber wenn<br />

Krieg ist und Krieg Krieg ist, wenn also Hungersnot herrscht, so herrscht sie<br />

doch über alle? Nein, da wird <strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rten Sachlage höchstens die Konzession<br />

gemacht, daß auch <strong>de</strong>r »Mittelstand« arm wird und <strong>de</strong>shalb hungert.<br />

Aber die Reichen hungern noch immer nicht. In keinem Notstandsausweis<br />

wird es behauptet. Und wenn sie nicht hungern, so wäre wohl <strong>de</strong>r Beweis erbracht,<br />

daß Speise vorhan<strong>de</strong>n ist, woraus sich mit zwingen<strong>de</strong>r, nur nicht die<br />

Reichen zwingen<strong>de</strong>r Notwendigkeit <strong>de</strong>r Schluß ergäbe, daß keine Hungersnot<br />

herrscht. Die Erkenntnisse, die sich hier aus Problem und Quantität schöpfen<br />

lassen, sind so primitiv, daß man sich ihrer fast so schämt wie <strong>de</strong>s Sachverhalts,<br />

und das Staunen <strong>de</strong>s Tolstoischen Bauern über die Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zinsennehmens<br />

wird daneben zur nationalökonomischen Finte. Die zum Himmel eines<br />

Christenlands stinken<strong>de</strong> Infamie, daß die von Gott ganz gleichartig erschaffenen<br />

Magen nicht einmal nach <strong>de</strong>m Existenzwert <strong>de</strong>r ganzen Leiber,<br />

son<strong>de</strong>rn nach <strong>de</strong>m Inhalt ihrer Taschen unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, so daß nicht<br />

nur jene, die sie schon vor <strong>de</strong>m Krieg gefüllt hatten, son<strong>de</strong>rn auch solche, und<br />

zumeist solche, die sie erst durch <strong>de</strong>n Krieg gefüllt haben, auch <strong>de</strong>n Magen<br />

gefüllt kriegen, die an<strong>de</strong>rn aber auch damit leer ausgehen — raubt <strong>de</strong>n Räubern<br />

nicht nur nicht <strong>de</strong>n Schlaf, son<strong>de</strong>rn wird von ihnen selbst, <strong>de</strong>n aus irgen<strong>de</strong>inem<br />

geheimnisvollen kataphysischen Grund Bevorzugten, als <strong>de</strong>r natürlichste<br />

Zustand von <strong>de</strong>r Welt vom Morgen bis zum Abend dargeboten, zugegeben<br />

und erörtert. Es ist hier möglich, daß in Eßwarenhandlungen, die unser<br />

I<strong>de</strong>alismus zu Delikatessenhandlungen verklärt hat, wo also eo ipso<br />

Zartgefühl vorrätig sein müßte, Menschen ihre Einkäufe besorgen und während<br />

sie bedient wer<strong>de</strong>n, zuschauen, wie die von draußen hereinschauen und<br />

wie, die Nase an das Auslagefenster gedrückt, Hungergesichter die aufgeschichteten<br />

Würste als Schauspiel genießen; und in <strong>de</strong>n Zeitungen, die <strong>de</strong>r<br />

Verpackung <strong>de</strong>r Ware dienen, wer<strong>de</strong>n die täglichen Chancen <strong>de</strong>r Zufuhr aus<br />

<strong>de</strong>m Ausland erörtert für jene, die draußen stehn, Ich lasse mich zu einem Gelüb<strong>de</strong><br />

hinreißen: je<strong>de</strong>m dieser Wiener, die sich an <strong>de</strong>r Kriegswohltätigkeit zu<br />

schaffen gemacht haben und <strong>de</strong>n Weckrufen einer großen Zeit gehorsam<br />

selbst Gold für Eisen gaben, wenn's ihnen auf <strong>de</strong>m Wurstpapier bestätigt<br />

ward, je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r einmal dabei betreten wur<strong>de</strong>, wie er eines <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren<br />

hungerstarres Auge seinen Einkauf begleitet hat, in <strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n rief und ihm<br />

zu essen gab — will ich das eiserne Wiener Herz zurückverwan<strong>de</strong>ln; doch<br />

fürcht' ich, daß das Scherflein, das mir da zu Lasten fällt, kaum ein Schwarzgelbes<br />

Kreuz wert sein wird. Denn diese Menschen regen sich selbst dann<br />

nicht, wenn vor <strong>de</strong>m Schaufenster <strong>de</strong>r Delikatessen sich schon das Ausland<br />

ansammelt und an die Parias die Gabe wen<strong>de</strong>t, welche man besitzt, in<strong>de</strong>m<br />

man sie gibt. Unaufmerksam bleiben die drin nicht; mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Schurkengewissen<br />

eigentümlichen Großmut wird <strong>de</strong>r Verteilungsmodus erörtert und eingeräumt,<br />

daß nicht in erster Linie sie selbst — wie selbstlos —, son<strong>de</strong>rn »zunächst<br />

die Ärmsten <strong>de</strong>r Armen« beschenkt wer<strong>de</strong>n sollen. Wür<strong>de</strong>n sie nicht<br />

drinnen schon bedient, so müßte man fragen: Ja warum <strong>de</strong>nn? Schafft Armut<br />

<strong>de</strong>nn ein Vorrecht auf Sättigung? Alle Magen sind gleichartig erschaffen und<br />

wenn Hungersnot im Reich ist, so haben doch die Reichsten <strong>de</strong>r Reichen die<br />

Speise ebenso nötig wie alle an<strong>de</strong>rn? Aber sie geben ja zu, auch wenn wir's<br />

nicht im Vorbeigehn feststellen könnten, daß sie versorgt sind, und darum<br />

überlassen sie <strong>de</strong>n Einlauf <strong>de</strong>r Schweizer Wohltätigkeit zunächst <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn.<br />

Und sind sie <strong>de</strong>nn nicht auch an ihr aktiv beteiligt, wie nur an <strong>de</strong>n Gelegenheiten,<br />

die die Charitas während <strong>de</strong>s Kriegs gemacht hat? Ihre »Aufmerksamkeit«<br />

gilt <strong>de</strong>r Ankunft <strong>de</strong>s Schweizer Hilfszugs, <strong>de</strong>r seinerseits <strong>de</strong>m genius loci<br />

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