INFORMATIONSBRIEF Nr. 40 / 2-2004 April - Mai - Juni - BAGSO

Der Film
wie die wesentlich weniger frommen Deutschen.
„Es ist einfach lächerlich zu behaupten, dieser Film richte sich gegen
eine bestimmte Volksgruppe", sagte mir nach der Vorpremiere mein
britischer Kollege. „Gibson wendet sich an uns alle." In einigen
amerikanischen Vorberichten stand zu lesen, wie verwerflich es doch
sei, dass die blutrünstigen Massen in der „Passion Christi" semitische
Gesichtszüge trügen. Hätte Gibson Norweger oder Japaner
importieren sollen? In Wahrheit sind gerade die sympathischsten
Gestalten - zum Beispiel Jesu Mutter und die Veronika - schöne
Jüdinnen. Andererseits sind die scheußlichsten Typen in diesem Film
keine Juden, sondern sadistische römische Soldaten. Zudem: Wer, wie
ich, in vielen Ländern aberwitzige Pöbel erlebt hat, darunter auch
blonde und blauäugige Mobs in der Nazi - Zeit, in der DDR und bei den
68er Randalen in der Bundesrepublik - der weiß, wie hässlich solche
Massen überall sind; es gibt da keine „völkischen" Unterschiede. Der
Kinobesucher, dessen bin ich sicher, wird dies instinktiv erfassen.
Danach hilft nur noch beten
Vielleicht ist der Rabbiner Lapin zu optimistisch. Vielleicht sind wir
Europäer und Amerikaner wirklich so aberwitzig, dass auch kein
Gibsonsches Rütteln mehr fruchtet. Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass die
Abermillionen, die mir ins Kino folgen werden, hernach wie ich noch
stundenlang bebend dasitzen und begreifen, dass nach diesem Film nur
noch beten hilft.
Es ist jetzt schon lange nach Mitternacht. Ich versuche, meine Seele zu
glätten, indem ich eine CD mit Bachs Matthäuspassion ins Laufwerk
meines Computers lege. Gleich kommt Paul Gerhardts Vers, der all das,
was ich vor einigen Stunden gesehen habe, in die richtige Dimension
rücken wird: „Ich bin's, ich sollte büßen / an Händen und an Füßen /
gebunden in der Höll'; / die Geißeln und die Banden / und was du
ausgestanden, / das hat verdienet meine Seel'.
Uwe Siemon-Netto
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