Themenheft Schulreife
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gründer des Chipherstellers INTEL) 1965 aufgestellte<br />
„Gesetz“, dass sich alle 18 bis 24 Monate die Anzahl der<br />
Transistoren auf einem Chip verdoppeln werde. Die<br />
Prognose hat sich bestätigt und gilt noch immer. Sie<br />
hat zu grandiosen Fortschritten geführt. Ein Beispiel:<br />
1971 umfasste ein Chip der Firma Intel 2.300 Transistoren,<br />
2012 waren es bereits 2,5 Milliarden, und ein Ende<br />
der Steigerungen ist noch nicht abzusehen.<br />
Der grandiose, faszinierende Erfolg technischer Entwicklungen<br />
verführt zahllose Menschen und leider<br />
auch manch einen Wissenschaftler dazu, die wiederholte<br />
Multiplikation des immer selben Prinzips für ein<br />
allgemeingültiges Gesetz jeder Entwicklung zu halten.<br />
Angewendet auf die Kindesentwicklung führt das zu<br />
der simplen, aber tief wurzelnden Überzeugung: Die<br />
Fähigkeiten, die am Ende des Erziehungs- und Bildungsprozesses<br />
erreicht sein sollen, müssen schon am<br />
Anfang gefordert werden. Soll der erwachsen gewordene<br />
junge Mensch z.B. über Medienkompetenz verfügen,<br />
dann muss schon das Kleinkind mit den Medien<br />
vertraut gemacht werden. Soll es später über einen<br />
ausgefeilten Intellekt verfügen, der ihm im Konkurrenzkampf<br />
eine herausragende Stellung sichert, dann<br />
muss der Intellekt schon im Kindergarten (oder sogar<br />
in der Krippe, siehe das englische Beispiel) bereits tüchtig<br />
trainiert werden. Soll der Mensch Autonomie erlangen,<br />
muss schon das Baby an Autonomie gewöhnt<br />
werden usw.<br />
Dieses Prinzip geht nachweislich am realen Leben vorbei,<br />
weil bei allen Lebensprozessen nicht das lineare<br />
Prinzip, sondern das Prinzip der polarisch sich steigernden<br />
Metamorphosen gilt (Näheres dazu bei Patzlaff<br />
2007): Die Pflanze beispielsweise beginnt nicht gleich<br />
nach dem Keimen mit der Blütenbildung, sondern betreibt<br />
erst einmal etwas ganz Anderes, nämlich Wurzel-<br />
, Stengel- und Blattbildung, und schafft dadurch die<br />
Grundlage für ein gesundes Wachstum, aus dem dann<br />
in einer späteren Phase die Blüte hervorgehen kann.<br />
Jede Phase dieser Entwicklung braucht ihre Zeit zum<br />
Reifen, damit sie eine tragfähige Basis für die nächsthöhere<br />
Phase bilden kann. Wer aber glaubt, bei Kindern<br />
das Ziel des Bildungsganges viel schneller und effizienter<br />
durch ein linear von Anfang bis Ende<br />
gleichbleibendes Prinzip zu erreichen, der praktiziert<br />
den diametral entgegengesetzten Ansatz in der Pädagogik.<br />
Den unvermeidlich auftretenden, für viele Kinder<br />
mörderischen Leistungsdruck wird er möglicherweise<br />
nicht nur für eine tolerable Begleiterscheinung<br />
halten, sondern sogar für das entscheidende Agens<br />
einer erfolgreichen Ausbildung.<br />
Das Resultat: eine krankmachende Pädagogik<br />
Was aber ist das Ergebnis, wenn dieser Ansatz konsequent<br />
durchgeführt wird (was heute ja schon weithin<br />
der Fall ist) ? Die Ergebnisse der erwähnten IPSUM-<br />
Studie stehen derzeit zwar noch nicht fest; doch kann<br />
man sich schon jetzt unschwer davon überzeugen, dass<br />
es um die Gesundheit der nachwachsenden Generation<br />
(zumindest in Deutschland) erschreckend schlecht bestellt<br />
ist. Seit Jahren enthalten die Berichte der staatlichen<br />
Gesundheitsämter zu den regelmäßigen medizinischen<br />
Untersuchungen in Sekundarstufe 1 und 2<br />
alarmierende Nachrichten über den Gesundheitszustand<br />
von Kindern und Jugendlichen.<br />
Sicherlich ist das nicht allein die Folge einer intellektualisierenden<br />
Früherziehung. Es gibt auch andere Faktoren<br />
wie den übermäßigen Medienkonsum, Bewegungsmangel,<br />
problematische Ernährungsgewohnheiten,<br />
geringen Sozialstatus und andere. Indes kann der<br />
Einfluss der Erziehungs- und Bildungsmethoden, dem<br />
die Kinder und Jugendlichen fast jeden Tag viele Stunden<br />
ausgesetzt sind, nicht gering eingeschätzt werden,<br />
und spätestens beim Übergang ins Gymnasium und<br />
beim Durchlaufen des G-8-Modells sind die Ursachen<br />
der psychosomatischen Beschwerden, die dort massiv<br />
gehäuft auftreten, eindeutig dem Leistungsdruck und<br />
der Überforderung in der Schule zuzuordnen.<br />
Da aber kein flächendeckender Aufstand aller Pädagogen<br />
und Eltern in Sicht ist, der auf eine grundlegende<br />
Änderung des ganzen Systems drängen würde, bekämpfen<br />
die ratlosen Eltern die Symptome bei ihren<br />
Kindern mit entsprechenden Therapien oder sogar Psychopharmaka,<br />
die wiederum der Wirtschaft neue Geschäftszweige<br />
eröffnen. Die Pharmaindustrie erklärt<br />
die pädagogikgenerierten Symptome einfach für genetisch<br />
bedingte Defizite, will sagen: für naturgegebene<br />
Tatsachen, denen man als Betroffener nicht entkommen<br />
kann, und verdient unglaubliche Summen an den<br />
Präparaten (wie z.B. Ritalin), die sie den besorgten Eltern<br />
andient. Die Furcht der Eltern vor Nachteilen, die<br />
ihr Kind in Zukunft erleiden könnte, wenn sie untätig<br />
bleiben, übertönt meistens alle Bedenken.<br />
Was ist also das Fazit? Die gutgemeinte Zielsetzung, die<br />
Kinder für den Lebenskampf zu stärken durch eine forcierte,<br />
linear zielgerichtete Bildung schon vom Babyalter<br />
an, erreicht ihr Gegenteil: Sie schwächt die Kinder<br />
vorzeitig und macht sie krank. Eine ehrliche, nüchterne<br />
volkswirtschaftliche Rechnung, die den Effekt des eingeschlagenen<br />
Weges auf seine Nachhaltigkeit überprüfen<br />
würde, müsste zu dem Ergebnis kommen:<br />
10 Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland