Themenheft Schulreife
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• Am 30. Juli 2004 lautete in der TAZ der Titel zu<br />
einem längeren Bericht über ein weiteres Expertengremium:<br />
„Schulpflicht schon für Dreijährige“. Hier<br />
wie auch im vorigen Bericht stammten die Experten<br />
– wen wundert es – aus wirtschaftsnahen Kreisen.<br />
• Am 11. November 2005 berichtete die Westdeutsche<br />
Allgemeine Zeitung, dass in England ein Curriculum<br />
für Kinder von 0 bis 3 Jahren eingeführt<br />
worden sei, dessen Einhaltung in den Kinderkrippen<br />
von staatlichen Inspektoren genau geprüft werde.<br />
Die Kinder müssten „unter anderem nachweisen,<br />
dass sie Symbole erkennen und Zusammenhänge<br />
begreifen können … Meistern sie Aufgaben wie Vergleichen<br />
und Kategorisieren, erhalten sie das Prädikat<br />
Competent Learner. Krippen mit wenigen Kompetenten<br />
Lernern müssen mit verstärkten Besuchen<br />
rechnen.“<br />
Weltweiter Angriff auf die Kindheit<br />
Der zuletzt zitierte Zeitungsbericht aus Großbritannien<br />
demonstriert, dass die von mir skizzierten Tendenzen<br />
der Bildungspolitik nicht auf Deutschland beschränkt<br />
blieben; sie finden sich – in teilweise noch viel drastischerer<br />
Form – in den meisten hochtechnisierten Ländern<br />
der Erde. Zugleich legt der Artikel schonungslos<br />
offen, womit wir es in Wahrheit zu tun haben: Hinter<br />
der Maske der wohlmeinenden Reform, die nur das<br />
Beste für das Kind zu wollen vorgibt, verbirgt sich (ob<br />
bewusst oder unbewusst, ändert nichts am Ergebnis)<br />
ein geradezu generalstabsmäßig geplanter Angriff auf<br />
die Kindheit, parallel zu der Kindesmisshandlung durch<br />
extensiven Gebrauch elektronischer Medien, dessen<br />
Folgeschäden inzwischen weltweit ein beängstigendes<br />
Ausmaß erreicht haben (Patzlaff 2013). Beide zusammen<br />
beeinflussen die Gesundheit und Entwicklung<br />
schon der allerkleinsten Kinder mit einer Massivität,<br />
die in der Menschheitsgeschichte ohne Beispiel ist.<br />
Was die durch Bildschirmmedien verursachten Langzeitschäden<br />
angeht, beginnt derzeit in der Öffentlichkeit<br />
ein langsames Erwachen, und es sind schon längst<br />
nicht mehr allein die Waldorfpädagogen, die ihre warnende<br />
Stimme erheben. Leider ist bei den Wirkungen<br />
der frühkindlichen Intellektualisierung das Problembewusstsein<br />
noch nicht im gleichen Maße gewachsen.<br />
Die Reizwörter frühkindliche Bildung und Förderung<br />
betören noch immer die Öffentlichkeit und es lässt sich<br />
mit ihnen trefflich Politik machen. Ihr wahrer Inhalt<br />
zeigt sich erst, wenn man fragt, was unter dieser Bildung<br />
verstanden wird.<br />
Zwar sprechen sich nicht wenige namhafte Pädagogen<br />
und Wissenschaftler dezidiert gegen die Verschulung<br />
des Kindergartens aus. Doch sind sie in der Minderheit.<br />
Der allgemeine Trend geht noch immer dahin, Bildung<br />
gleichzusetzen mit schulischer Bildung, also mit einer<br />
Beanspruchung der kognitiven Kräfte und des Intellekts.<br />
Diskret aus dem Hintergrund agierende Kreise,<br />
deren Tätigkeit der schon erwähnte Wissenschaftler<br />
Jochen Krautz detailliert nachgewiesen hat, sorgen<br />
dafür, dass diese Auffassung in der Öffentlichkeit nicht<br />
wirklich in Frage gestellt wird, denn auf ihr basiert das<br />
gesamte Beschleunigungskonzept.<br />
Allerdings scheinen diese Kreise inzwischen eine etwas<br />
andere Strategie zu verfolgen als in den ersten Jahren<br />
nach dem PISA-Schock: Bei realistischer Einschätzung<br />
der Lage mussten sie erkennen, dass der Schulbeginn<br />
mit drei Jahren oder noch früher politisch nicht auf die<br />
Schnelle durchsetzbar wäre. Folglich gehen die Bemühungen<br />
dahin, den öffentlichen Widerstand stillschweigend<br />
zu unterlaufen, indem die Kinder eben<br />
schon im Kindergarten zum schulischen Lernen angehalten<br />
werden – auf „spielerische Weise“ natürlich, wie<br />
immer wieder betont wird. Die Floskel „spielerisch“ verhüllt<br />
nur notdürftig den eigentlichen Zweck der Aktion,<br />
nämlich den Kindergarten umzufunktionieren zu<br />
einem Zulieferer für die Schule.<br />
Noch ist der Kampf nicht entschieden, weil sich viele<br />
maßgebliche Pädagogen und Wissenschaftler dagegen<br />
zur Wehr setzen; die Auseinandersetzung zwischen den<br />
Anhängern der Intellektualisierung auf der einen Seite<br />
(wissenschaftlich vor allem vertreten durch Prof. Wassilios<br />
Fthenakis, Herausgeber des Bayerischen Bildungs-<br />
und Erziehungsplans für Kindertagesstätten)<br />
und den Anhängern der „Selbstbildung des Kindes“ auf<br />
der anderen Seite (wissenschaftlich vor allem vertreten<br />
durch Prof. Gerd Schäfer, Autor eines KiTa-Bildungsplans<br />
für Nordrhein-Westfalen) schwelt weiter (Fthenakis<br />
2006, Schäfer 2005). Fest steht aber: An der<br />
Frage, ob sich die intellektorientierte Strömung durchsetzt<br />
oder nicht, wird sich – das dämmert inzwischen<br />
einer wachsenden Zahl von besonnenen Beobachtern –<br />
das Schicksal der nachwachsenden Generationen entscheiden.<br />
Wir stehen an einer zukunftsbestimmenden<br />
Wegscheide.<br />
Der Einschulungszeitpunkt als Gesundheitsfrage<br />
Worin besteht aber die Gefahr? Den wenigsten Kritikern,<br />
selbst wenn sie sich ausdrücklich gegen die Ver-<br />
Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland 7