Themenheft Schulreife
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schulung des Kindergartens aussprechen, ist bewusst,<br />
dass es dabei um nichts Geringeres als die gesundheitlichen<br />
Grundlagen des Kindes für sein weiteres Leben<br />
geht. Die Begründung dafür hat am klarsten Rudolf<br />
Steiner gegeben, ausgehend von seiner fundamentalen<br />
Entdeckung, dass die Kräfte, die das Kind zum schulischen<br />
Lernen braucht, dieselben Kräfte sind, die zuvor<br />
seinen Leib aufgebaut, strukturiert und gestaltet<br />
haben. Formelhaft verkürzt lautet die entscheidende<br />
Erkenntnis: Lernkräfte sind metamorphosierte Wachstumskräfte.<br />
Diese sowohl im materiellen wie auch im geistigen<br />
Sinne „bildenden“ Kräfte im Kind lassen sich durchaus<br />
schon vor dem Schuleintritt zu intellektuellen Leistungen<br />
gebrauchen, wenn der Erwachsene das forciert. In<br />
ihrer bedingungslosen Lernbereitschaft sind Kinder so<br />
offen auch für kognitive Lernprozesse, dass sie nicht<br />
selten den Anschein erwecken, bereits reif für die<br />
Schule zu sein. Doch ist dabei zu bedenken, so Rudolf<br />
Steiners dringende Warnung, dass man durch eine vorzeitige<br />
Forcierung der intellektuellen Anforderungen<br />
dem Körper Bildekräfte entzieht, die er eigentlich noch<br />
für die endgültige Konsolidierung seiner Strukturen<br />
und Prozesse benötigt, um eine Gesundheitsgrundlage<br />
zu schaffen, die ein ganzes Leben lang tragfähig bleibt.<br />
Möglich ist dieser Entzug; das Kind in seiner grenzenlosen<br />
Offenheit wehrt sich nicht dagegen, so dass der Erwachsene<br />
sogar den Eindruck haben kann, er tue dem<br />
Kind damit einen Gefallen und fördere seine Entwicklung.<br />
Werden diese Kräfte aber beansprucht, bevor die<br />
leibliche Ausgestaltung den notwendigen Reifegrad erlangt<br />
hat, dann – und das ist der Kern von Steiners Botschaft<br />
– führt das zu einer nachhaltigen Schwächung<br />
der Konstitution, die sich erst im Laufe der folgenden<br />
Jahre als ein gesundheitliches Problem manifestiert.<br />
Diese Aussage ist bisher nirgends mit den wissenschaftlichen<br />
Instrumentarien unserer Zeit überprüft<br />
worden. Das IPSUM-Institut in Stuttgart hat deshalb<br />
im Blick auf die heraufziehende Früheinschulungswelle<br />
2005 eine wissenschaftliche Langzeitstudie begonnen,<br />
an der rund die Hälfte aller deutschen Waldorfschulen<br />
sich beteiligte (Patzlaff 2006). Nach einer dreijährigen<br />
Pilotphase konnte 2008 mit dem damaligen Einschulungsjahrgang<br />
die eigentliche Untersuchung der Frage<br />
beginnen, ob eine frühere Einschulung die Gesundheitsentwicklung<br />
des Kindes tatsächlich beeinflusst.<br />
Näheres hierzu und zu der geplanten Vergleichsstudie<br />
mit Schülern staatlicher Schulen berichtet in diesem<br />
Heft Dr. med. Martina Schmidt.<br />
Mythos Früheinschulung – eine Sackgasse<br />
Ob sich die von Steiner prognostizierte Langzeitwirkung<br />
schon in der 4. Klasse manifestiert, lässt sich gegenwärtig<br />
noch nicht beantworten, weil die Auswertung<br />
der Daten noch aussteht. Doch sprechen mehrere<br />
Indizien dafür, dass eine frühere Einschulung auch nur<br />
um wenige Monate dem Kinde langfristig nicht nur<br />
nicht hilft, sondern sogar negative Wirkungen haben<br />
kann. Bellenberg z.B. stellte bei früh eingeschulten Kindern<br />
statt eines Leistungsvorsprungs ein signifikant erhöhtes<br />
Risiko des Sitzenbleibens fest (Bellenberg 1999).<br />
Puhani wies anhand der IGLU-Grundschul-Leseuntersuchung<br />
an 6.600 Viertklässlern nach, dass sich ein höheres<br />
Einschulungsalter signifikant positiv auf den späteren<br />
schulischen Erfolg auswirkt: Später eingeschulte<br />
Schüler erzielten deutlich bessere Testergebnisse als<br />
früher eingeschulte. Außerdem ergab die Auswertung<br />
von 182.676 Datensätzen hessischer Schüler der Einschulungsjahrgänge<br />
1997-1999, dass die Wahrscheinlichkeit,<br />
ein Gymnasium zu besuchen, für die älter eingeschulten<br />
Kinder um etwa 12 Prozentpunkte stieg<br />
(Puhani 2006).<br />
Wenn aber schon bei den schulischen Leistungen eher<br />
negative Wirkungen zu konstatieren sind, dann ist die<br />
Frage berechtigt, ob nicht auch in gesundheitlicher<br />
Hinsicht schon in der 4.Klasse oder spätestens in der<br />
Pubertät mit Schwierigkeiten zu rechnen ist. Ebendas<br />
soll in der IPSUM-Studie erstmals geklärt werden.<br />
Dass der von Steiner behauptete Zusammenhang zwischen<br />
Früheinschulung und Gesundheitsentwicklung<br />
nicht aus der Luft gegriffen ist, darauf deuten auch<br />
die Ergebnisse der jüngst veröffentlichten Langzeitstudie,<br />
die 1921 von dem amerikanischen Psychologen<br />
Lewis Terman begonnen und über mehrere Forschergenerationen<br />
fortgeführt wurde. Terman hatte<br />
1.528 überdurchschnittlich intelligente, 1910 geborene<br />
Jungen und Mädchen ausgesucht, die von 1921<br />
an (über Termans Tod 1956 hinaus) acht Jahrzehnte<br />
lang in regelmäßigen Abständen detailliert zu ihrer<br />
Gesundheit, zu ihrer Familiengeschichte und ihrem<br />
alltäglichen Leben befragt wurden. Es war dies ein<br />
weltweit einzigartiges Projekt, bei dem Menschen<br />
durch ihr gesamtes Leben hindurch beobachtet wurden,<br />
zuletzt von den Forschern Howard Friedman und<br />
Leslie Martin. Diese machten die Ergebnisse publik;<br />
auf deutsch erschien ihr Buch 2012 unter dem Titel<br />
Die Longlife-Formel.<br />
Das Kapitel 6 dieses Buches ist dem Thema „Kindheit<br />
und Schule“ gewidmet. Darin heißt es u.a.:<br />
8 Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland