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Themenheft Schulreife

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Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die Terman-Teilnehmer,<br />

die sehr früh zur Schule kamen, in ihrem<br />

gesamten Leben mit Problemen zu kämpfen hatten.<br />

Zum Beispiel hatten Frühstarter wie Philipp als Erwachsene<br />

eher Anpassungsschwierigkeiten, und<br />

früh startende Mädchen neigten später eher zu Alkoholmissbrauch.<br />

Und überraschenderweise ließ ihr Schuleintrittsalter<br />

zugleich eine Prognose für die Länge ihres<br />

Lebens zu. Die Kinder, die mit fünf Jahren in die<br />

erste Klasse kamen, hatten ein höheres Risiko, früh<br />

zu sterben, und diejenigen, die im Regelalter von<br />

sechs Jahren mit der Schule begannen, lebten länger.<br />

(…) Der frühe Start – seinen Alterskollegen vorauszueilen<br />

– ist ein Mythos, der in die Sackgasse<br />

führt. (S.113)<br />

Faszination und Furcht<br />

– Wegbegleiter der modernen Wirtschaft<br />

Die vorangegangenen Abschnitte versuchten einen<br />

Eindruck zu vermitteln von den widerstreitenden Tendenzen<br />

in der heutigen Elementarpädagogik. Man wird<br />

sich angesichts der Befunde fragen müssen, wie es sein<br />

kann, dass selbst in einem Land wie Deutschland, das<br />

sich stets als Hort von Bildung und Kultur verstand, die<br />

Rattenfängertöne einer wirtschaftsorientierten Politik<br />

derartig starke Wirkung zeitigten und erst allmählich,<br />

nachdem die Konsequenzen in zunehmender Schärfe<br />

sichtbar geworden sind, die Fehlentwicklung erkannt<br />

wird. Warum wacht das Bewusstsein selbst bei denen,<br />

die von Anfang an am wirksamsten hätten Widerstand<br />

leisten können, nämlich Eltern und Pädagogen, so spät<br />

erst auf und hat in der öffentlichen Meinung noch keineswegs<br />

die Oberhand gewonnen? Dazu möchte ich<br />

abschließend noch einige Gedanken skizzieren.<br />

Die sozialdarwinistische These, der Mensch befinde sich<br />

in einem permanenten Kampf ums Dasein, in welchem<br />

er sich behaupten müsse (survival of the fittest), ist<br />

keine Theorie mehr; sie hat sich in unserem gegenwärtigen,<br />

kapitalistisch strukturierten Wirtschafts- und Finanzsystem<br />

so durchgreifend verwirklicht, dass sie wie<br />

eine Art Grundgefühl heutigen Lebens weite Teile der<br />

Menschheit ergriffen hat und ihr Denken, Fühlen und<br />

Handeln bestimmt, unhinterfragt, als handele es sich<br />

um ein unumstößliches Naturgesetz.<br />

Der Alltag scheint dieses Empfinden immer wieder zu<br />

bestätigen. Doch ist den wenigsten bewusst, dass im<br />

Hintergrund zwei gewaltige Mächte am Werk sind, die<br />

uns immer weiter auf dem Weg vorantreiben und sich<br />

gegenseitig die Bälle zuspielen. Sie vereinnahmen den<br />

Menschen nicht auf der Verstandesebene, sondern in<br />

seinem seelischen Befinden, indem sie bestimmte Empfindungen<br />

befördern, die sich einer rationalen Beherrschung<br />

hartnäckig entziehen und eben dadurch einen<br />

hintergründigen Einfluss ausüben: Faszination und<br />

Furcht.<br />

Zahllose Menschen begeistern sich, ja berauschen sich<br />

geradezu an der Rasanz des technischen Fortschritts<br />

mit seinen phantastischen Erfindungen und Entwicklungen,<br />

die noch vor 50 Jahren undenkbar gewesen<br />

wären. Der Rausch ist durchaus begründet: Wer ermessen<br />

kann, welch ungeheure, wahrhaft staunenswerte<br />

Leistungen von Ingenieuren und Wissenschaftlern<br />

immer wieder in kürzester Zeit erbracht werden, der<br />

wird unwillkürlich von der Faszination ergriffen, die<br />

von dem Glanz moderner Technik ausgeht. Aber der<br />

Rausch fördert auch die Begierde nach den neuesten<br />

Hightech-Gütern und -Angeboten, und das befeuert<br />

den Konsum, der die Verbraucher immer mehr in eine<br />

Abhängigkeit führt, bis hin zur Sucht. Die Wirtschaft<br />

„brummt“, wie es volkstümlich heißt; der Konkurrenzkampf<br />

unter den Anbietern steigert sich und erzwingt<br />

ganz selbstverständlich eine fortwährende Steigerung<br />

des Tempos und der Effizienz. Wirtschaftlich überleben<br />

kann nur der, der bei diesem Wettlauf mithält.<br />

Die Geschichte lehrt indessen, dass jedes kapitalistische<br />

System den Grundsatz der Nachhaltigkeit missachtet<br />

und dadurch immer wieder aufs Neue in schwere Krisen<br />

gerät. Wenn eine solche Krise – wie wir es gegenwärtig<br />

erleben – international wird und die gesamte<br />

Welt zu bedrohen beginnt, dann zeigt die andere untergründige<br />

Macht ihr hässliches Gesicht: die Furcht.<br />

Sie ergreift so heftig Besitz von den Gemütern, dass sie<br />

sogar die natürliche Elternliebe korrumpiert und ein<br />

fieberhaftes Bemühen auslöst, die eigenen Kinder<br />

bestmöglich auszurüsten für die erwarteten, immer<br />

heftiger werdenden Krisen der Zukunft, und das so<br />

früh und so schnell wie nur möglich, nach dem Motto:<br />

Je früher, desto besser. Und an diesem Bestreben weiß<br />

die Wirtschaft wiederum trefflich zu verdienen.<br />

Pädagogik im Beschleunigungswahn<br />

Hier macht sich eine Denkweise geltend, die mit dem<br />

technisch-naturwissenschaftlichen Zeitalter heraufgekommen<br />

ist: das lineare Denken, das sich vor allem in<br />

der Leittechnik unserer Zeit, der Computertechnologie,<br />

bewährt hat. Ein Beleg dafür ist das von Moore (Mitbe-<br />

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland 9

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