Themenheft Schulreife
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Von besonderer Bedeutung für das beschriebene Alter<br />
ist dabei die Betätigung des eigenen Willens aus einem<br />
freien Herangehen an die Welt: Was das Kind in dieser<br />
Phase aus seinem freien geistigen Wesen heraus ergreift,<br />
woran es sich erinnern will und was es in kindlicher<br />
Phantasie umgestaltet, das stärkt sein Ich und<br />
seine Wachstumskräfte. Mit der Achtung, Wahrnehmung<br />
und Förderung dieser schöpferischen Individualität<br />
des Kindes ist ein Kernpunkt der Waldorfpädagogik<br />
beschrieben: „Diese Erziehungsmethode weiss,<br />
dass es im Innern der Menschennatur eine individuelle<br />
Wesenheit gibt, der man als Lehrer, als Erzieher den<br />
Weg vorbereiten muss. Diese innerste Individualität<br />
erzieht sich eigentlich immer selbst; sie erzieht sich<br />
durch dasjenige, was sie wahrnimmt in der Umgebung,<br />
was sie mit Sympathie aufnimmt durch das Leben,<br />
durch die Situation des Daseins, in die sie hineingestellt<br />
ist. In dieses kann der Erzieher oder Lehrer nur<br />
indirekt wirken: Dadurch, dass er das Leibliche und<br />
Seelische des Menschen so bildet, dass später im<br />
Leben der Mensch die möglichst geringsten Hindernisse<br />
und Hemnisse an seiner eigenen Leiblichkeit, an<br />
dem Temperament und den Emotionen, durch den<br />
Charakter seiner Erziehung hat.“ 3<br />
Blicken wir in das heutige Zeitgeschehen, so müssen<br />
wir wahrnehmen, dass die zweifelsohne grossen Entwicklungskräfte<br />
des kleinen Kindes sehr früh für ein<br />
gedächtnismässiges Lernen eingesetzt werden: So<br />
heisst es zum Beispiel in einem Programm für Fünfjährige:<br />
„Intensivtraining vor der Einschulung – Kinder<br />
auf Erfolgskurs – Es wird Lesen, Schreiben, Rechnen<br />
trainiert und das Sozialverhalten reflektiert.“<br />
Was geschieht, wenn die Gedächtniskräfte des Kindergartenkindes<br />
ganz direkt von aussen „trainiert“<br />
werden? Das Ich des Kindes ist dann gezwungen,<br />
seine Verbindung zum organischen Wachstum zu früh<br />
zu lösen und es wird darauf „dressiert“, gedankliche<br />
Fähigkeiten zu ergreifen, die sich vom ganzheitlichen<br />
Erleben des jungen Menschen trennen. Da nach heutiger<br />
salutogenetischer Beschreibung Gesundheit aus<br />
dem Zusammenstimmen von innerlich menschlichem<br />
Erleben und äusserer Entwicklung entsteht, hat diese<br />
Trennung für das spätere Leben zum Einen eine Minderung<br />
der Ich- und Gesundheitskräfte zur Folge<br />
(siehe Beitrag von M. Schmidt). Zum Zweiten erwirbt<br />
sich der junge Mensch gedankliche Wissens-Begriffe,<br />
die dadurch einseitig sind, dass sie nicht mehr so tief<br />
mit dem ureigenen Fühlen und Erleben des Kindes<br />
verbunden sind. Als Zusammenfassung ergibt sich ein<br />
polarer Erziehungsgrundsatz:<br />
• Gelingt es, das Kind bis zum 7. Lebensjahr in freier,<br />
eigener Weise Nachahmung, Phantasie und Gedächtnis<br />
entwickeln zu lassen, so stärken wir das<br />
Ich und die Gesundheit des jungen Menschen.<br />
• Zu früh von aussen geforderte Gedächtnis-Übungen<br />
schwächen die Ich-Kraft und damit die Gesundheit<br />
des Kindes.<br />
Die Verwandlung der ätherischen Wachstumskräfte<br />
in der Zeit der Einschulung<br />
In der dritten und letzten Phase der Kleinkindzeit beginnen<br />
sich die ätherischen Wachstumskräfte zwischen<br />
dem 5. und 7. Jahr allmählich von der Bindung an die<br />
Organe zu lösen. Mit der Streckung der Gliedmassen<br />
bis in die Haltung hinein beginnt das Kind innerlichseelisch<br />
aufmerksamer zu werden. Die weiterhin wirkenden<br />
Kräfte der kindlichen Hingabe, Nachahmung<br />
und Bewegung zeigen nun Schritt für Schritt eine neue<br />
Qualität der Wachsamkeit, aber auch Empfindsamkeit.<br />
Rudolf Steiner beschreibt diesen Umschmelzungsprozess<br />
als „stärksten Kampf“ zwischen zwei Kräftearten:<br />
Das Seelische des Kindes, das sich über Jahre so stark<br />
mit dem in den Organismus hinunter strömenden plastisch-aetherischen<br />
Formkräften verbunden hatte,<br />
emanzipiert sich nun. Ein Grossteil der organbildenden<br />
Kräfte wird frei und verwandelt sich einerseits in Verstandes<br />
und Denkkräfte, andererseits in aufsteigende<br />
Kräfte, die dem Ich des Kindes als freie Gestaltungsund<br />
Phantasiekräfte für das Lernen zur Verfügung stehen:<br />
„Alle Kräfte, die da heraufschiessen, verwenden<br />
wir dann, wenn wir aus dem Zeichnen das Schreiben<br />
herausentwickeln; denn diese Kräfte wollen eigentlich<br />
übergehen in plastisches Gestalten, in Zeichnen und<br />
so weiter. Das sind die Kräfte, die im Zahnwechsel<br />
ihren Abschluss finden, die vorher den Körper des Kindes<br />
ausplastizierten.“ 5<br />
Stellen wir aus dem Vorherigen die Frage, wie wir<br />
heute die beschriebene Ich-Entwicklung in der Zeit des<br />
Schulübergangs wahrnehmen können, so wenden wir<br />
den Blick zunächst in drei Richtungen: Zum Einen können<br />
wir in besonderen Augenblicken beobachten, wie<br />
die Innerlichkeit des Kindes den ganzen jungen Menschen<br />
erwärmt und durchlebt: Wenn es aus sich heraus<br />
3 Rudolf Steiner, Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, Stratford-on-Avon, GA 304, 19. April 1922<br />
4 Aus einem Werbe-Artikel<br />
5 R. Steiner, Meditativ erarbeitete Menschenkunde, GA 302a, 16.9.1920<br />
Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter 39