28.02.2014 Aufrufe

Themenheft Schulreife

Themenheft Schulreife

Themenheft Schulreife

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte<br />

in Deutschland<br />

Dr. Rainer Patzlaff<br />

Seit mehr als einem Jahrzehnt steht in Deutschland das<br />

Bildungssystem im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit.<br />

Begleitet von teilweise erregten Debatten<br />

wurden in dieser Zeit zahlreiche Reformen auf den<br />

Weg gebracht, auch im Bereich der frühkindlichen Bildung.<br />

Eine der Maßnahmen war die flächendeckende<br />

Einführung eines früheren Beginns der Schulpflicht.<br />

Der Gesetzgeber machte von seinem Recht Gebrauch,<br />

den Zeitpunkt festzulegen, und da die Schulpflicht<br />

Vorrang hat vor dem Elternrecht, haben die Eltern<br />

kaum eine Handhabe, sich gegen die Vorverlegung zu<br />

wehren.<br />

Die Begründungen für diese tief in das Leben der Kinder<br />

eingreifende Maßnahme von Seiten der Politik<br />

waren nicht nur dürftig, sondern blendeten vor allem<br />

vollständig die Tatsache aus, dass in den 60er und 70er<br />

Jahren des letzten Jahrhunderts die Früheinschulung<br />

politisch schon einmal intensiv erwogen, erprobt und<br />

nach gründlicher wissenschaftlicher Prüfung verworfen<br />

worden war. Unklar ist, ob die Politiker bei ihrem<br />

neuerlichen Anlauf mit der Vergesslichkeit der Öffentlichkeit<br />

rechneten oder es selbst nicht mehr wussten;<br />

jedenfalls nahmen sie keine Notiz davon, dass ältere<br />

Wissenschaftler wie z.B. Rainer Dollase, die in die damaligen<br />

Prozesse involviert waren, energisch gegen die<br />

nutzlose Wiederholung des Experiments protestierten,<br />

das wissenschaftlich längst mit klaren Ergebnissen abgeschlossen<br />

war.<br />

Zur Erinnerung: In den 60er Jahren hatte der einflussreiche<br />

Kritiker Georg Picht die deutsche Bildungskatastrophe<br />

ausgerufen (Picht 1964) 1 und damit die<br />

Schleusen für eine Welle von Reformbemühungen geöffnet.<br />

In diesem Zuge sprach der Deutsche Bildungsrat<br />

1970 die Empfehlung aus, schon die Fünfjährigen einzuschulen.<br />

Das wurde in zahlreichen Modellprojekten<br />

umgesetzt und wissenschaftlich evaluiert. In Nordrhein-Westfalen,<br />

dem Bundesland mit der höchsten<br />

Anzahl von Modellprojekten, kamen nach einigen Jahren<br />

vier Forschungsteams unabhängig voneinander zu<br />

dem Ergebnis, dass die frühere Einschulung den Kindern<br />

schulisch nicht den geringsten Nutzen brachte<br />

und im sozial-emotionalen Bereich sogar eher Nachteile<br />

(Dollase 2009). Die traditionelle Kindergartenerziehung<br />

erwies sich immer noch als die beste Schulvorbereitung<br />

– ein für viele Reformer verblüffendes Resultat.<br />

Dreißig Jahre später schien das alles vergessen. Als<br />

2000 die erste PISA-Studie durchgeführt wurde, bei<br />

der Deutschland im internationalen Vergleich nur sehr<br />

mäßige Mittelfeldplätze erreichte, sprach man in<br />

Deutschland vom PISA-Schock und setzte alles daran,<br />

bei den zahlreichen nachfolgenden Studien auf nationaler<br />

und internationaler Ebene besser abzuschneiden.<br />

Spätestens mit der sogenannten Baby-PISA-Studie von<br />

2004 wurde deutlich, dass erfolgversprechende Reformen<br />

schon in den Kindertageseinrichtungen ansetzen<br />

müssten, und so kam es hier im Laufe der folgenden<br />

Jahre zu einer bemerkenswerten Fülle von Reformen,<br />

in denen sich eine durchaus fortschrittliche Tendenz<br />

zeigte:<br />

• Kindertagesstätten, so wurde propagiert, dürfen<br />

nicht mehr als bloße Betreuungs- und Aufbewahrungsstätten<br />

betrieben werden. Sie haben einen<br />

höchst wichtigen Bildungsauftrag in einer für das<br />

Kind fundamentalen Phase seiner Entwicklung, sind<br />

also Bildungseinrichtungen, gleichrangig mit den<br />

Schulen.<br />

• Es muss darum gehen, Kinder schon frühzeitig bestmöglich<br />

zu fördern. Dazu müssen auch die notwendigen<br />

Mittel bereitgestellt werden.<br />

• Auch die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher<br />

muss verbessert und auf ein deutlich höheres Niveau<br />

gebracht werden.<br />

• Kindergarten und Schule müssen durch institutionelle<br />

Kooperationen miteinander verzahnt werden,<br />

um den Kindern eine bruchlose Bildungsbiografie<br />

zu ermöglichen.<br />

• Um der individuellen Situation des einzelnen Kindes<br />

gerecht werden zu können, müssen die Schuleingangsstufen<br />

neugestaltet werden.<br />

1 Die Literaturangaben in Klammern beziehen sich auf die Literaturliste am Ende des Aufsatzes<br />

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland 3

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!