HANS WERNER HENZE - Schott Music
HANS WERNER HENZE - Schott Music
HANS WERNER HENZE - Schott Music
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
94<br />
D<br />
ie Musik zum Tryptichon Tanzstunden ist erst<br />
im Winter 1995-96 entstanden, und zwar in<br />
der Reihenfolge, in der die drei Stücke nun<br />
vorgestellt werden. Die beiden Seitenflügel, also Le<br />
disperazioni del Signor Pulcinella und Labyrinth, fußen<br />
inhaltlich und musikalisch auf zwei fragmentarischen<br />
Arbeiten aus meiner kompositorischen Frühzeit: Die<br />
Pulcinella-Noten entstammen einer 1949 geschriebenen<br />
Bühnenmusik, die noch einmal vorzunehmen ich<br />
mir seit langem versprochen hatte. Bei der Neuschrift<br />
wurde viel von dem alten Material ausgeschieden, das<br />
Verbliebene aber entwickelt, ausgearbeitet, soweit es<br />
mir dazu geeignet schien. Es wurden neue musikalische<br />
Ideen hinzugegeben und einige (instrumental<br />
gesetzte) Tanzlieder „alla napolitana“ eingefügt. Die<br />
Handlung, in etwa eine verkürzte Darstellung der Vorgänge<br />
in Molières „Georges Dandin“, ist nach Neapel<br />
verlegt worden, nicht in das märchenhaft verträumte<br />
Neapel der Vergangenheit, sondern in eine heutige,<br />
krude und unromantische Großstadtwelt, in der aber<br />
eben doch noch menschliche Herzen schlagen und die<br />
Tragik durch Sentiment und Komik aufgehoben wird,<br />
zwei in diesem Kontext ausschlaggebende Werte –<br />
damit das Zärtliche nicht in Vergessenheit geraten,<br />
die Ideale des Individualismus nicht verloren gehen<br />
und damit Freundlichkeit sich verbreiten möge, eine<br />
neue Art von Glück.<br />
Labyrinth war einmal ein etwa sieben Minuten langes<br />
Miniballett, das nie getanzt wurde und nur einige<br />
Male als Konzertstück zu hören war. Das Hauptthema<br />
habe ich in die neue Partitur übernommen, habe sie<br />
aber in andere, neue tonale und rhythmische Zusammenhänge<br />
gestellt, habe sie verwandelt und entwickelt,<br />
analog zu der gemeinsam mit Mark Baldwin<br />
erarbeiteten neuen Handlung, auf die sich die Musik<br />
unablässig und hautnah gestisch und erzählerisch<br />
bezieht. Handlung und Musik treffen also in dieser<br />
Arbeit zu einem besonders engen Ineinanderwirken<br />
zusammen. Das Labyrinth-Orchester besteht übrigens<br />
ausschließlich aus Perkussionsinstrumenten.<br />
Wie schon die frühe Skizze (1950) bezieht sich auch<br />
unser neues Tanzstück auf André Gides „Thésée“. Dort<br />
ist ja bekanntlich der schreckliche Minotaurus ein<br />
ganz unterhaltsamer Zeitgenosse – Theseus wäre am<br />
liebsten nie mehr aus seiner Nähe gewichen und hätte<br />
am liebsten Theben und selbst Ariadne vergessen, die<br />
dann aber natürlich unentwegt den Ariadnefaden aufwickelt<br />
und somit unseren an den Faden geknüpften<br />
Helden den begehrlichen Fängen des Monsters doch<br />
noch entreißt. Hier bei Baldwin ist es ähnlich: Theseus<br />
freundet sich mit dem Menschenfresser an, erweicht<br />
ihn durch die schöne Kunst des klassischen Tanzes<br />
und lehrt ihn dann auch noch seine ersten Schritte auf<br />
diesem Gebiete zu tun.<br />
Der Sohn der Luft: In den frühen sechziger Jahren hatten<br />
Jean Cocteau und ich an einer Idee für ein Ballett<br />
zu arbeiten begonnen. Der Dichter hatte bereits eine<br />
Szenenfolge notiert, nun wollte er noch einen Text<br />
einfügen, in dem gewisse Parallelen zu Kindheit und<br />
Leben Arthur Rimbauds hätten gezogen werden sollen.<br />
Und ich, der Komponist, hätte noch auf präzise<br />
Instruktionen zu warten gehabt, die Art und Weise<br />
betreffen, in welcher die Musik in diesem Cocteauschen<br />
Zusammenhang hätte funktionieren sollen.<br />
Krankheit und Tod verhinderten die Ausführung dieses<br />
Planes. Was blieb, waren die Szenenfolge und<br />
Cocteaus Gedicht « Le Fils de l’air » aus dem Jahre<br />
1934, das er erst auf deutsch (mit dem Titel „Das<br />
Luftkind“) für eine Zeitschrift (und in der – unerfüllt<br />
gebliebenen – Hoffnung auf eine Vertonung durch<br />
Kurt Weill) geschrieben und bald darauf französisch<br />
auf eine Schallplatte gesprochen hatte. Die dreißig<br />
Jahre später geschriebene Balletthandlung bezieht<br />
sich eher indirekt auf das alte Gedicht, wenn auch<br />
dort schon die Rede ist von den Bohèmiens, den Zigeunern,<br />
die kleine Jungs rauben und verführen und<br />
verzaubern, verwandeln, und von den Müttern, die<br />
ihre Sprösslinge nicht mehr finden können und darüber<br />
in Verzweiflung geraten. Im Gedicht wie im Ballett<br />
sind Anspielungen an den deutschen Struwwelpeter<br />
zu finden und an den deutschen Erlkönig-Mythos, an<br />
den traumatischen Umgang der Kinderseelen mit den<br />
Reizen und neugiererregenden Mysterien des fahrenden<br />
Volkes, der Schausteller und Zirkusakrobaten.<br />
T<br />
he music of the triptych Tanzstunden (Dance<br />
Lessons) first appeared in the winter of 1995-<br />
96 and in the order in which they are now presented.<br />
The two side panels, Le Disperazioni del Signor<br />
Pulcinella and Labyrinth, rest for their content and<br />
music on two fragmentary pieces of work from my<br />
early days as a composer: the Pulcinella scores derive<br />
from stage music written in 1949, which I had long<br />
promised myself to take up once again. In the newly<br />
written work, much of the old material has been removed;<br />
what remains has been developed, expanded<br />
in so far as seemed to me suitable. New musical ideas<br />
and a few (instrumentally set) “alla napolitana” dance<br />
songs were added. The plot, something of an abbreviated<br />
representation of the action in Molière’s “Georges<br />
Dandin”, is translated to Naples, not the fairy-tale<br />
dream of Naples of the past but to a present-day<br />
crude and unromantic urban sprawl, in which nevertheless<br />
there are still human hearts beating and tragedy<br />
is relieved through sentiment and comedy, two<br />
decisive values in this context – so that tenderness<br />
should not be forgotten, the ideal of individualism not<br />
lost and friendliness might be extended, a new kind<br />
of happiness.