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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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Dr. med. Carola Schildbach, Oberärztin Stationäre PsychotherapiePsychiatrie und Psychoanalyse imgeschichtlichen WandelEine Betrachtung aus der Perspektive heutiger stationärer PsychotherapieWildes inneres AuslandDie «Entdeckung des Unbewussten» durchdie Psychoanalyse im ausgehenden 19. Jahrhundertsteht am Ende einer kulturgeschichtlichenEpoche, in der Europa mit dem Überlegenheitsgefühleiner materialistischen und positivistischen Haltung glaubte,die ganzeWelt für die Vernunft kolonialisieren und gegen das so genanntePrimitive imprägnieren zu können. Mit dem Unbewusstenfreilich macht eine Kategorie ihr Vorhandensein geltend, die denhalbwegs domestizierten Kolonien des europäischen Imperialismusein weites und wildes inneres Ausland gegenüberstellt, eine Kategoriezugleich, die die materialistischen Glaubensbekenntnisse vonder absoluten Gültigkeit des Stofflichen ad absurdum führt.Materiell fassbares Trauma nicht mehr notwendigBis zu Sigmund Freud hatte man stets nach dem materiell fasslichenTrauma gesucht, das notwendig eine psychische Erkrankungbedinge. Freud schärfte die ärztliche Wahrnehmung für die unbewusstbleibenden, gleichsam «feinstofflichen» Prozesse, die seitfrüher Kindheit unerkannt fort und fort wirkten. Traumata ja: abernicht mehr notwendig als physikalisch begreifbare, organischeNervenschädigung, sondern als Ergebnis eines komplexen Kräftespielsvon Gefühlen und Affekten, von Triebwünschen einerseitsund ethischen Eigenanforderungen andererseits.Das dynamische UnbewussteDie Annahme eines «dynamischen Unbewussten», das in früherund frühester Kindheit durch Verdrängung entsteht, ist, wie wirheute wissen, einseitig und eng. Mit dieser Annahme ist das Unbewussteeine Art Reservoir triebhafter Gedanken und Gefühle,die zwar dynamisch nach aussen drängen, die jedoch aus persönlichenoder gesellschaftlichen Gründen nicht über die Schwelle desBewusstseins treten dürfen. Gerade weil sie es nicht dürfen, entstehtder seelische Konflikt und damit seelische Krankheit. Wennman so will: damit ist das Unbewusste vorwiegend pathogen.Methode zur Heilung seelischer Konflikte bildete unteranderem die Technik der «freien Assoziation».Seelische Störungen und Träume lassen sich mit demselbenCode entziffernAber Freud selbst machte mit seiner Traumdeutung (um 1900)schon den ersten Schritt weg von dieser allzu engen Auffassung.Träume sind eine Leistung, die auch dem gesunden Menscheneigen sind, physiologisch gesprochen, eine Funktion des gesundenGehirns. Freud entdeckte, dass sich Träume ähnlich erforschenliessen wie die seelischen Störungen seiner Patienten: mit Hilfe der«freien Assoziation». Seelische Störungen einerseits und Träumeandererseits liessen sich mit derselben Methode bearbeiten, sozusagenmit ein und demselben Code entziffern.Das Unbewusste verliert den Ruch des Pathogenenund wird zum Land der SeeleDie folgenden Psychoanalytiker, allen voran vielleicht C. G. Jung,haben das Unbewusste nach vielen Richtungen hin durchforscht.Der Mensch bekam nun nicht nur eine individuelle «seelischeGeschichte», die ihn zu dem hatte werden lassen, was er zu einemjeweiligen Moment auf bewusster wie unbewusster Ebene war.Er wurde auch eingebettet in ein Gefüge des kollektiven Unbewussten,sei es in der soziokulturellen Perspektive, die den Zusammenhangvon Trieb und Kultur (Freud), den Zusammenhangvon Macht und Gemeinschaft (Adler) betrachtet, sei es in einerstärker kulturgeschichtlichen Perspektive, die die Mythen,Märchen und kreativen Impulse der Menschheit in die Mitteder Betrachtung rückt (Jung). Das Unbewusste verlor damit rechtbald endgültig den Ruch des Pathogenen und wurde zueinem Land der Seele, das mehr als nur eine Reise wert war.Der individuelle Mensch konnte nun gewissermassen in einenje nachdem spannenden oder spannungsvollen Dialog mitsich selbst treten. Aus dieser Spannung heraus ist nicht nurTherapie vom «seelisch Erkrankten» möglich, auch das Wachstumdes Gesunden kann sich intensivieren. Und zugleich wird dieNachdenklichkeit gegenüber individuellen und gesellschaftlichenProzessen gefördert.QuantensprüngeMan darf vielleicht sagen, dass die Entdeckung des Unbewussten(1894 ff.) als «Ausland der Seele» in ein Jahrzehnt fällt, in dem mitder Erfindung des Kraftwagens (1888), dem weitgehendenAusbau der Eisenbahnlinien, der Etablierung des Weltpostvereins(1891) und der Einrichtung der Zeitzonen (1891) die weltumspannendeKommunikation und die Organisation des Reisenseinen ersten Quantensprung erfuhren. Parallel hierzu wurde dieallgemeine Aufmerksamkeit stärker auf eine Kommunikation mitder inneren Welt des Menschen gerichtet.9

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