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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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14■ Der Anteil der Kleinfamilien hat stetig abgenommen. Zirka 58Prozent der amerikanischen Kinder verbringen einen wesentlichenTeil ihres Lebens in einer Familie mit nur einem Elternteil,was grösstenteils auf Ehescheidungen zurückzuführen ist.■ Alternative Familienstrukturen (beispielsweise die «Patchwork-Familie», wo sich ein allein erziehender Elternteil mit Kindernmit einem anderen allein erziehenden Haushalt zusammentut,um eine neue Familieneinheit zu bilden) haben zu Situationengeführt, in denen viele Kinder nicht mehr von ihren leiblichenEltern erzogen werden.■ Aufgrund der grösseren geographischen Mobilität gibt es dietraditionelle erweiterte Familie immer weniger, so dass dieKleinfamilie fast ohne Unterstützung von Verwandten zurechtkommenmuss.■ Die Zahl der Frauen, die berufstätig sind, ist dramatisch angestiegen.Die Zahl der berufstätigen Mütter mit Kindern imKindergartenalter ist seit 1945 um das Zehnfache gestiegen.■ Drogen- und Alkoholsucht gibt es in einem bisher nie dagewesenenAusmass zunehmend auch bei Jugendlichen.■ Verbrechen, Terrorismus und Morde aus den unterschiedlichstenGründen sind alltäglich. Die moderne Figur des Amokläufers,der mehrere Menschen mit in den Tod nimmt, hatdie antiquierte Figur des Robin Hood längst abgelöst, wenn esnach ihrer gesellschaftlichen Publizität und Resonanz geht. Indem Masse, wie die Belastungs- und Frustrationstoleranz desdurchschnittlich normalen, modernen Menschen gesunken ist,ist auch seine Reizschwelle für Gewalt gesunken.■ Das Auftreten von körperlichen und sexuellen Übergriffen aufKinder ist in den letzten beiden Jahrzehnten nachweislichdrastisch gestiegen.■ Die massenmediale Aufbereitung und Zurichtung der Wirklichkeitführt zur Phantomisierung der Wahrnehmung vonWirklichkeit (Günter Anders) und fördert Derealisationssymptomewie das jüngste Beispiel der medialen Vermittlung desIrak-Kriegs gezeigt hat. Medial erzeugte Wunschbilder sind wirkungsmächtigerals die Wirklichkeit selbst. Das moderne Ichorientiert sich an den glitzernden Fassaden von Kino und Werbung,Wirklichkeit und Wunschwelt verschwimmen ineinander,Individuation wird ersetzt durch Lifestyling.Die geschlechtlichen Rollenmuster, die sich während der letzten 30Jahre so stark verändert haben, sind von nicht unerheblicher Bedeutungfür die Frage, warum Borderline-Persönlichkeitsstörungen besondersunter Frauen vorherrschen (deren Anteil an diagnostiziertenBPS-Fällen liegt bei ca. 70 Prozent). In der Vergangenheit hatte eineFrau im Wesentlichen eine Lebensaufgabe: früh zu heiraten, Kinderzu erziehen und jeglichen Ehrgeiz, selbst berufstätig zu sein, zu unterdrücken.Heute steht eine junge Frau vor einer verwirrenden Ansammlungvon Rollenmodellen und zum Teil widersprüchlichen Erwartungen,angefangen bei der allein stehenden Karrierefrau über dieverheiratete Karrierefrau bis zur «Superfrau», die versucht, Ehe, Karriereund Kinder erfolgreich unter einen Hut zu bringen. Obwohl dieFrauen erfolgreich gekämpft haben, um grössere soziale und beruflicheMöglichkeiten zu erreichen, mussten sie einen hohen Preis zahlen:Mehrfachbelastungen und quälende Lebensentscheidungen imBereich Karriere, Familie und Partnerschaft, nicht zuletzt aufgrundder versäumten Emanzipation der Männer und der fehlenden sozialenUnterstützungssysteme – sowie Verwirrung über das eigene Lebenund die Lebensziele. Aus dieser Perspektive ist es verständlich, dassFrauen Borderline-Störungen gegenüber anfälliger sind, denn beidieser Störung sind Identitäts- und Rollenverwirrung zentrale Bestandteile.3. Besichtigung des Kriegsschauplatzes: Geht unsereGesellschaft «borderline»?Psychologische Theorien nehmen eine andere Dimension an,wenn man sie im Licht der Kultur und der Zeit betrachtet, aus dersie stammen. Als Freud um die Jahrhundertwende beispielsweisedas System formulierte, das zur Grundlage der modernen Psychiatriewerden sollte, war der kulturelle Zusammenhang die formalstrukturierte, viktorianische Gesellschaft. Seine Theorie, dass derprimäre Ursprung für Neurosen in der Unterdrückung unannehmbareraggressiver und sexueller Gefühle und Gedanken zusuchen sei, war in diesem strengen sozialen Kontext völlig logisch.Heute, ein Jahrhundert später, werden aggressive und sexuelleImpulse viel offener ausgedrückt, und das soziale Milieu ist vielverworrener. Was es heisst, ein Mann oder eine Frau zu sein, istviel zweideutiger als im Europa um die Jahrhundertwende. Diesozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen sind dynamischund weniger festgelegt. Die Familienstrukturen und diekulturellen Rollen sind uneinheitlich definiert, und das Konzeptdes «Traditionellen» wird zunehmend diffuser und weniger wichtig.Unsere Kultur hat den Kontakt mit der Vergangenheit weitgehendverloren und ist überwiegend gegenwartsorientiert. DieÜberflutung mit technischem Fortschritt und Informationenmacht erforderlich, dass der Einzelne sich stärker dem Einzelstudiumverpflichtet und praktische Aufgaben allein angeht, so dassGelegenheiten für die Sozialisation verringert werden. SteigendeScheidungsraten, ein dynamischeres und fragmentarischeresBeziehungsverhalten sowie grössere Mobilität haben zu einerGesellschaft geführt, der es an Beständigkeit und Verlässlichkeitfehlt. Persönliche, intime Beziehungen werden schwer oder garnicht mehr eingegangen – tiefsitzende Einsamkeit, Egozentrik,Leere, Angst, Depression und der Verlust eines klaren Identitätsgefühlssind die Folge.Das Borderline-Syndrom stellt eine pathologische Reaktion aufdiese Belastungen dar. Ohne äussere Quellen von sozialer Stabilitätund der Bestätigung des Selbstwerts werden Borderline-Symptome wie Selbstzerstörung, extreme Stimmungsschwankungen,Impulsivität, schlechte Beziehungen, ein beeinträchtigtesIdentitätsgefühl und Zorn verständliche Reaktionen auf die Spannungenunserer Kultur. Borderline-Merkmale, die in einem gewissenAusmass alle Menschen aufweisen können, werden durch dievorherrschenden sozialen Bedingungen in grossem Umfang hervorgerufen,wenn nicht mitverursacht. Louis Sass (The BorderlinePersonality, New York Times Magazine, 22.8.1982) drückt es soaus:«Jede Kultur braucht wahrscheinlich ihren Sündenbock als Ausdruckder Übel einer Gesellschaft. So wie der Hysteriker zu Freuds Zeitenfür die sexuelle Repression jener Zeit als Beispiel diente, repräsentiertdie Borderline-Persönlichkeit, deren Identität in viele Teile gespaltenist, das Zerbrechen stabiler Einheiten in unserer Gesellschaft.»

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