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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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Dr. med. Markus Binswanger, ChefarztModerne Identitätsprobleme – Einführungins Jahresthema4Die Bildung einer lebensgerechten Identitätstellt für jeden Menschen, der nach seinempersönlichen Lebenssinn sucht, eine zentraleentwicklungspsychologische Aufgabedar. Sie ist Grundlage seiner Selbstdefinition und seiner Beziehungenzum Umfeld. Die Aufrechterhaltung einer stabilen Identitätgeschieht in fortlaufender Auseinandersetzung mit derUmgebung. Jede Lebensphase innerhalb des Lebenszyklus stelltspezifische Anforderungen. Von besonderer Bedeutung ist dieAdoleszenz, welche durch eine tiefgreifende Neuorganisation derPersönlichkeit charakterisiert ist. Auch Übergänge in späterenLebensphasen stellen für das Individuum hinsichtlich Identitätsentwicklungneue Herausforderungen; Identitätskonflikte und-krisen charakterisieren diese lebensphasenbezogenen Momentedes Umbruchs und der Neuorientierung.Identitätsentwicklung im gesellschaftlichen KontextDer Prozess der Identitätsbildung wird von vielfältigen psychosozialenFaktoren beeinflusst. Er basiert einerseits auf derVerinnerlichung von Kindheitserfahrungen in der Ursprungsfamilie,andererseits auf der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichenStrukturen, Normen und Werten. Die so genannte soziale Identität– z.B. Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, Religion oder Nation– ist eine wichtige Basis für Identifikationsmuster und Voraussetzungfür seelische Stabilität und Weiterentwicklung.Individuelle Identität spiegelt unter diesem Aspekt immer auchsoziale Gegebenheiten und Prozesse sowie damit im Zusammenhangstehende Probleme und Konflikte.Unter dem Leitmotiv «Identität der Gesellschaft – Identität derSeele» widmet sich unser diesjähriges <strong>Jahresheft</strong> Fragen nachWechselwirkungen zwischen sozialen Prozessen und seelischerEntwicklung des Individuums. Ausgangspunkt ist zunächst dieFeststellung einer seit Jahren steigenden Inanspruchnahme ambulanterund stationärer psychiatrischer Leistungen. Diese Entwicklunglässt Politiker, Vertreter der Krankenkassen und Fachleutegleichermassen aufhorchen. Die breite Öffentlichkeit hatbisher nur am Rande davon Kenntnis genommen. Grosse Aufmerksamkeiterfährt neuerdings die bereits seit einigen Jahrenwachsende Zahl von IV-Renten-Bezügern mit psychischen Problemenresp. psychiatrischen Störungen. Einzelne politische Gruppierungenwollen diesen Umstand mit dem Sachverhalt erklären,dass die ambulante Versorgung durch eine ebenfalls rasch wachsendeZahl von psychotherapeutisch und psychiatrisch Tätigengeleistet wird, die nicht selten die Auseinandersetzung mit demHier und Jetzt scheuen, um den Status quo aufrecht zu erhalten,im Sinne von «Ich bin O. K., du bist O. K.». So betrachtet verursachenPsychiater und Psychologen die sich ausweitenden psychischenProbleme, mit denen sie konfrontiert sind, gleichsam selber.Diese nicht ungefährliche Rhetorik lässt Fragen nach möglichengesellschaftlichen Ursachen und Hintergründen unbeantwortet –soziale Dimensionen seelischen Leidens bleiben unbeleuchtet.Moderne KrankheitsbilderWichtiges Motiv für die Wahl unseres Jahresthemas ist die fortlaufendeKonfrontation mit sich wandelnden, neuen, bis anhinwenig bekannten psychiatrischen Problemstellungen. DieseStörungen, welche nicht selten dramatische Verlaufsformenzeigen, unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den bekanntenpsychiatrischen Erkrankungen wie beispielsweise Schizophrenieund Demenz. Was ist gemeint?Unter dem Gesichtspunkt sich verändernder psychiatrischerSymptombildungen und Verhaltensmerkmale ist in erster Liniedie zunehmende Zahl von Menschen zu erwähnen, welche sich– offen oder heimlich – selber verletzen oder gar verstümmeln.Manipulationen am eigenen Körper, wie sich schneiden oder sichbrennen, sind nicht selten verbunden mit allgemeinem Risikoverhaltensowie generellen Schwierigkeiten in der Impulskontrolle.Mager- und Brechsucht, der Gebrauch von stimulierendenpsychotropen Substanzen sowie pathologisches Spielen oder Stehlensind ebenfalls Charakteristika dieser neuen Störungsbilder.Die häufig als Borderline-Persönlichkeiten diagnostizierten, meistjugendlichen oder jungen erwachsenen Patienten, sind in ihremSelbst- und Umweltbezug massiv beeinträchtigt. Sie zeigen grosseUnsicherheit in ihrer sexuellen Orientierung, ihren Wertvorstellungensowie in ihren langfristigen Zielen. Im Zentrum steht inder Regel eine schwere Identitätsstörung – eine so genannte Identitätsdiffusion– welche von der Umgebung häufig in Form vonwidersprüchlichen Charakterzügen sowie rasch wechselndemBeziehungsverhalten wahrgenommen wird. Neben diesen persönlichkeitsgestörtenPatienten suchen neuerdings auch MenschenHilfe in unserer Klinik, welche vorerst seelisch gesund imponieren.In privaten und beruflichen Belastungs- und Veränderungssituationenwerden sie massiv überfordert und geraten vor diesemHintergrund in eine schwere, oft akute Krise. Bei näherer Betrach-

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