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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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Brigitta Bommer, MaltherapeutinAuf der Suche nach den verlorenenGeschichtenNeugierig sammeln sich die Menschen aufdem Platz um die Geschichtenerzählenden:Was einem Touristen als Märchen ausTausendundeiner Nacht erscheint, wird aufdem Platz Djema el Fna jeden Abend Wirklichkeit. Die Unescohat diesen Platz im marokkanischen Marrakesch in die Liste derMeisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes derMenschheit aufgenommen. Die Auswahl erfolgte auf Grund folgenderKriterien: herausragender Wert, Verwurzelung in der kulturellenTradition, gesellschaftliche Bedeutung, Quelle von Inspirationund interkulturellem Austausch, zeitgenössische kulturelleund soziale Rolle usw. Ein solcher kultureller Raum ist eben der«Das Narrative ist seitlangem als heilsambekannt.»Platz Djema el Fna.Nicht seine Bauweiseist es, die ihn zumMenschheitserbe auszeichnet,nein, die Menschen sind es, die auf diesem Platz durchmündliche Überlieferung ihr Brauchtum lebendig halten undweiterentwickeln. Sowohl die Geschichtenerzählenden wie dieSchlangenbeschwörer und die Kräuterhändlerinnen sind ÜbermittlerInnender Tradition. Der Djema el Fna ist heute bedroht,sowohl durch Modernisierungsmassnahmen wie auch durch denstetig wachsenden Autoverkehr und den Tourismus.In vielen Kulturen gab es über Jahrhunderte einen Berufsstand,der in hoher Achtung stand: jener der Chronisten und Geschichtenerzähler.Ihre Aufgabe war es, die Erinnerung an die Geschichteeines Dorfes, einer Region und ihrer Menschen zu wahren undvon Generation zu Generation weiterzugeben. Sie waren HüterInnender Erinnerung und verhinderten das Vergessen. Schon derUmstand, dass diese Welt überhaupt eine Unesco braucht, die daskulturelle Welterbe wie ein Museumsstück unter eine Glashaubestellen muss, sollte uns nachdenklich stimmen und erst recht derGedanke, dass wir schon so weit sind, dass es kaum mehr Plätzegibt für Geschichtenerzählende und ihre Zuhörenden. Bei unssind sie schon lange verschwunden, die Menschengruppen, diesich am Abend zur Sommerzeit auf dem Dorfplatz oder am Brunnenzusammenfanden und winters in einer Stube zum Schwatzüber die Tagesgeschichten. Heute erscheinen diese in den Medienin einer Einwegkommunikation. Die Flut von Geschichten, zudenen wir keinen Bezug haben, ist dermassen gross, dass aus derÜberforderung heraus oft nur noch eines bleibt: Nicht mehr hinschauen,nicht mehr hinhören!Dem möchte der für <strong>2003</strong> gewählte Jahresschwerpunkt«Geschichte – Geschichten» entgegenwirken!Das Narrative ist seit langem als heilsam bekannt. DiesemHeil-Samen möchten wir in der Klinik im laufenden Jahr mitverschiedenen Projekten unsere Aufmerksamkeit schenken. DasThema hat die Kultur- und Gestaltungsgruppe der Klinik mit denfolgenden Absichten lanciert: Wir möchten das Narrative in denverschiedenen Berufs- und PatientInnengruppen fördern – überdas Leitthema der «Vier Jahreszeiten». Unterschiedliche Gruppenan verschiedenen Orten und Anlässen sollen das Jahr hindurchGeschichte(n) hören, riechen, fühlen, erleben, ertasten, schmecken,lesen, schreiben, erzählen, sehen, erwandern usw. So wurdez.B. eine Wegstrecke zum «Geschichtenweg» erklärt, wo manGeschichten hautnah, sinnlich, gehend erleben kann. Entlang desWeges finden sich verschiedene Briefkästen, aus denen die Wanderndeneinen Text entnehmen und sich damit auseinandersetzenkönnen oder einen eigenen Text hinterlegen, an einem Bestehendenweiterschreiben usw.Wir sammeln all die Geschichten, die auf diese Art übers Jahrhindurch entstehen. Sie werden regelmässig veröffentlicht ineinem überdimensioniertenroten Buch,das im Wartehäuschenbei der Bushaltestelleim Klinikdorfinstalliert ist.Einmal in jederJahreszeit ist ein Geschichtenerzählerbeiuns zu Gast. Unterwegsin der Naturerzählt er von längstvergessenen Zusammenhängen,altenBräuchen und Wissenund nimmt seineZuhörerInnen mitauf eine Reise, dieSinnzusammenhänge«Als TherapeutInnensind wir HüterInnen derGeschichte unsererPatientInnen. Im therapeutischenProzessforschen wir gemeinsamnach einem vertieftenVerständnis der individuellenLebensgeschichte –vertrauend darauf, dassauf diese Weise neue Zukunftsperspektiveneröffnetund Heilungsschritteeingeleitet werden.»aufzeigt, zu denen wir heutigen Menschen kaum mehr einenZugang haben. Wer mit den Frühlingsgeschichten mit auf demWeg war, wird diesen Nachmittag nicht so schnell vergessen, denn47

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