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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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Martin Weyer, Stationsleiter Pünt Nord, Stationäre PsychotherapieOperation WüstensturmDie Borderline-Persönlichkeitsstörung als katastrophischer Identitätsbildungsversuch im Zeitalter derenttraditionalisierten MultioptionsgesellschaftIntro: Operation Wüstensturmoder Was Sie von diesem Artikelerwarten dürfenDie Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung(BPS) ist in den letzten Jahren bemerkenswert gutkotiert an der Therapiebörse. Sie füllt die Kassen der diversen stationärenwie ambulanten Therapie- und Fortbildungseinrichtungen,und ein Ende der «Borderline-Hausse» ist nicht absehbar.Auch die Klinik Littenheid ist bei dieser Entwicklung an vordersterFront dabei. Dies belegt der kontinuierliche Anstieg derdiagnostizierten Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typussowie der Anstieg der mit dieser Störung einhergehenden Mehrfachdiagnosen(siehe Statistik von 1997 bis 2001 im <strong>Jahresheft</strong>2002). Nicht zuletzt führte dies auch zur folgerichtigen Implementierungneuer störungsspezifischer Behandlungseinheiten(Pünt Nord) und Behandlungsmethoden (DBT und TFP).Aber auch über die Therapieszene hinaus ist das «Borderline-Syndrom» derart präsent, dass es dem interessierten Laien ins Augespringt, wenn nicht aus den Ohren quillt. Es wird multimedialmit Getöse und Eventcharakter inszeniert, sei es als Theaterstück(z.B. Thea Dorn), sei es als musikalische Performance undVideoclip (z.B. Marilyn Manson) oder als Betroffenen-Doku imSchweizer Fernsehen (z.B. über das Leben mit einer multiplen Persönlichkeit).Und betrachtet man die Flut der fach- und populärwissenschaftlichenVeröffentlichungen zum Thema und die schierunendliche Zahl der Einträge im Internet, so drängt sich der Eindruckauf: Die Borderline-Störung ist zur typischen seelischen Störungunserer Epoche geworden. Das Anliegen dieses Artikels ist es,diesen Eindruck zu überprüfen, indem er die folgenden Fragen zubeantworten versucht: Inwiefern taugt das diagnostische Konstruktder BPS als Beschreibungskategorie realer gesellschaftlicher Prozesse?Gibt es Korrespondenzen zwischen der Zeitgeist-Diagnose BPSund realen psychosozialen Erfahrungen unserer Epoche? Für welchegesellschaftlichen Befunde ist die Diagnose aussagekräftig?Leben wir gar in einer Borderline-Gesellschaft?1. Eröffnung der Kampfzone:Die Borderline-Persönlichkeitsstörung als Ausdruckeines Lebens im Ausnahmezustand1.1 Eine idealtypische Fallvignette («Anna»)Zum Eintrittsgespräch auf unserer Psychotherapiestation kommtAnna in Begleitung ihrer Mutter. Auf unsere Frage, ob sie ihreMutter bei dem Gespräch dabei haben wolle, antwortet sie resolut,dass das nicht nötig sei. Die Mutter macht auf mich einenbedrückten und besorgten Eindruck. Sie scheint verunsichert.Beim Abschied geht sie auf ihre Tochter zu, um sie zu umarmen,aber Anna wehrt ab und bedeutet ihrer Mutter, dass sie gehenkönne, sie käme schon klar ...Anna ist 20 Jahre jung, und mit ihrem aparten, schmalenGesicht, den dunkelbraunen, wachen Augen und ihrem langen,braunen Haar erscheint sie ausgesprochen hübsch. Sie ist normalschlank und hat sich körperbetont gekleidet. An beiden Unterarmenlassen sich mehrere, ca. 5–10 cm lange Schnittnarben erkennen.Zu Beginn des Gesprächs wirkt Anna sehr angespannt undmisstrauisch. Zunächst stockend und im Verlauf des Gesprächszunehmend flüssig erzählt sie ihre Lebensgeschichte:Sie kommt direkt aus dem Spital, wo man ihr den Magen ausgepumpthat. Am Abend davor habe sie es nicht mehr ausgehaltenund Schluss machen wollen. Ihr Freund habe sie sitzen lassen,obwohl sie verabredet gewesen seien. Er habe ihr über ein SMSmitgeteilt, dass er verhindert sei. Stellen Sie sich das mal vor,einfach so über ein SMS! Einmal mehr sei sie von einem Mannbitter enttäuscht worden. Da sei sie wieder mal bedient gewesen,habe kein Land mehr gesehen, habe sich unerträglich einsam undleer gefühlt, habe sich dann besoffen, ein paar Joints geraucht, undda sie einfach nicht zur Ruhe gekommen sei, habe sie noch dieSchlaftabletten ihrer Mutter eingeschmissen. Leider habe ihreMutter was gemerkt. In die Therapie gehe sie eigentlich auch nur,weil ihre Mutter es nicht mehr länger aushielte mit ihr.Anna wohnt bei ihrer Mutter und deren Freund in einer Blockwohnung.Sie hat eine 10 Jahre ältere Schwester, welche bereitsverheiratet ist und eine eigene Familie hat. Ihr Vater lebt im Nachbardorfmit einer Frau zusammen, welche Anna auf den Tod nichtausstehen kann. Ihre Eltern haben sich voneinander getrennt, alsAnna fünfjährig war. An ihre frühe Kindheit kann sich Anna kaumerinnern. Sie wisse nur, dass sie eigentlich nicht eingeplant gewesenwar. Ihre Mutter sage immer, dass sie ihretwegen habe arbeitengehen müssen. Woran sich Anna erinnern kann, ist, dass sie mitihrer Schwester viel allein zu Hause gewesen sei und dass ihreEltern abends viel gestritten hätten. Dabei seien öfters die Fetzengeflogen, und auch sie sei vom Vater immer wieder verdroschenworden.In den Kindergarten sei sie ungern gegangen, sie habe sich dortimmer fremd und ausgeschlossen gefühlt. In der Schule sei es dann11

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