10Ablehnung von «Tiefenschwindel»Freilich, die Entdeckung des Unbewussten, die Einsicht, dass sichunbewusste Prozesse im Erleben und Verhalten des Menschenmanifestieren, gab der klinischen Psychiatrie Gelegenheit, eigenePerspektiven zu ordnen und zu vertiefen. Zunächst erfolgte aberim Grunde genommen die ablehnende Reaktion. Der «Tiefenschwindel»wurde mit der klaren Einsicht konfrontiert, dassVerhalten gelernt werden kann, dass es Lerngesetze gibt: Reizeführen zu Reaktionen und Verhaltenskonsequenzen, bestimmteReaktionen führen zu Erfolgen, diese Reaktionen werden künftigverstärkt. Umgekehrt zeitigen negative Verhaltenskonsequenzeneinen entsprechenden Lerneffekt: Die Reaktionen, die zu diesenKonsequenzen geführt haben, treten fortan seltener oder gar nichtmehr auf. Therapeutisch lässt sich durch gezieltes Intensivierenoder Abbauen von Reizen ein ganz bestimmtes wünschenswertesVerhalten lernen oder auch «verlernen» (Desensibilisierung).Welche unbewussten Prozesse auch immer beim «Neurotiker» zudessen «neurotischem Verhalten» geführt haben, das Verhalten«Die stationäre Psychotherapie kann Hilfe suchendenMenschen in Krisenzeiten Angebote machen, sieunterstützen – den eigenen Lebensweg gehen, mussein jeder selbst.»selbst ist auch Ergebnis eines Lernprozesses, der bestimmten Gesetzenund Einflussmöglichkeiten unterliegt. Verhaltenstherapienund tiefenpsychologisch fundierte Therapien gerieten in einenscharfen Gegensatz zueinander. Seit den siebziger Jahren des20. Jahrhunderts zeichnet sich eine Annäherung ab.Die neue Richtung: PsychosomatikDie Entdeckung, dass sich unbewusste psychische Prozesse imErleben manifestieren, gab aber auch dem Gesamtverhältnis vonMedizin, Psychiatrie und Psychologie eine neue Richtung, nämlichin der Psychosomatik. Seelisches Erleben kann sich durchausauch organisch manifestieren. Was uns «auf den Magen schlägt»,was uns «verschnupft» reagieren lässt, wurzelt in einer Psychodynamik,die im Körper selbst ihren unter Umständen dramatischenAusdruck findet. In der psychosomatischen Medizin, die sich alsganzheitliche Medizin versteht, wird Krankheit als etwas begriffen,das aus der Beziehung zwischen Individuum und Umwelt entsteht.Dabei werden psychologische Aspekte ebenso berücksichtigtwie soziale, organische, umweltbezogene. Diese ganzheitlicheSichtweise bezieht sich auch auf die Person des Psychotherapeutenund die Behandlungsmethoden der heutigen stationären Psychotherapie.Die psychosomatische Medizin öffnete vor allem denBlick für ein integratives Konzept, bei dem verschiedene psychotherapeutischeund medizinische Ansätze zur Linderung und Heilungvon seelischen Störungen beitragen. Verschiedene Ansätzeund Therapieformen sind hier gewissermassen im Dialog – nichtim Sinn einer Beliebigkeit oder in dem Bestreben, irgendwie einenkleinsten gemeinsamen Nenner zu betonen, sondern in dem Bewusstseineiner gemeinsamen Heiltätigkeit an Menschen und anderen Problemen, von denen die Vertreter aller Ansätze sich habenberühren lassen.Die Seele gerät in die Hände der PsychiatrieIm vergangenen Jahrhundert ist die Seele somit aus den Händender Theologie mehr und mehr in die Hände der Psychiatrie geraten,wodurch sich die Gesellschaft aber auch von ihren seelischenWurzeln entfernte. Während sich die Kirchen leerten, füllten sichdie Krankenhäuser. Seelsorge ist klar in einem Weltbild verwurzelt– psychotherapeutische Theoriekonzepte enthoben sich sukzessiveeines solchen, nach dem «Wozu?» im spirituellen Zusammenhangwird nicht mehr häufig gefragt. In einem Zeitalter, in dem immermehr «normal» ist, es an der «Re-ligio», der seelischen Rückverbindung,jedoch mangelt, wird es aber auch immer schwieriger,Grenzen zwischen «gesund» und «krank» zu ziehen und einen Lebenssinnzu erkennen.Identitätskrise der Psychiatrie?Wenn noch vor 50 Jahren Homosexualität als Perversion betrachtetwurde und heute in Deutschland bereits die ersten gleichgeschlechtlichenEhen geschlossen wurden, so müssen wir uns möglicherweiseauch in der Schweiz in denkommenden Jahrzehnten auf transformierendegeistig-seelische Prozesse einlassen,sowohl individuell als auch gesellschaftlich.Steuert die Psychiatrie selbst auf eine Identitätskrisezu? Die allmähliche Ersetzung desWortes «Seele» durch «Psyche» und der sichdaraus entwickelnde Anspruch des «Fachmannes»im Umgang mit ihren Krisen,beginnt ebensoviel Unmut zu erregen wie im 18. und 19. Jahrhundertdie Unwissenheit und das Moralisieren in seelischen Dingen.Die Psyche kann die Seele jedoch nicht ersetzen, alles anderewäre meines Erachtens kultureller Narzissmus, eine Überschätzungdes Psychiaters und Psychotherapeuten. Zum Trost: Krisenstellen bekanntlich Chancen dar, Chancen zur Veränderung, zumEinschlagen neuer Wege. Wir kommen heraus aus dem Dilemma,wenn wir uns von Illusionen verabschieden, klare Grenzen ziehenund Vorurteile abbauen, sei es gegenüber Psychotherapie, Psychiatrie,Religion.Lebenslanger EntwicklungsprozessDie stationäre Psychotherapie kann Hilfe suchenden Menschen inKrisenzeiten Angebote machen, sie unterstützen – den eigenenLebensweg gehen, muss ein jeder selbst. Die Suche nach seelischerIdentität ist ein lebenslanger Entwicklungsprozess, Jung nannte ihn«Individuation». Es wird nicht gelingen, zur Seele zu gelangen, es seidenn, wir gehen den Weg über das Unbewusste, was nicht wenigerbedeutet, als eine Begegnung mit den eigenen Schattenseiten zuriskieren. Die Psychiatrie muss sich meines Erachtens gar nicht umimmer weitere Theorieansätze bemühen. Heute wie vor 100 Jahren,zur Zeit der Geburt der Psychoanalyse, ist der Kern der «Psychotherapie»derselbe geblieben: eine Behandlung des Menschen in seelischerNot mit seelischen Mitteln – im Gegensatz bzw. in Ergänzungzur Behandlung mit Medikamenten. Die Suche nach der Identitätseiner Seele, das Ergründen seiner selbst, vermag niemand stellvertretendzu bewerkstelligen, aber Psychotherapeuten können Katalysatorenund Begleiter auf dem Weg der «Suche nach innen» sein. Ichteile die Gedanken von Havel, von welchem das folgende Zitatstammt: «Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht,sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.»
Martin Weyer, Stationsleiter Pünt Nord, Stationäre PsychotherapieOperation WüstensturmDie Borderline-Persönlichkeitsstörung als katastrophischer Identitätsbildungsversuch im Zeitalter derenttraditionalisierten MultioptionsgesellschaftIntro: Operation Wüstensturmoder Was Sie von diesem Artikelerwarten dürfenDie Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung(BPS) ist in den letzten Jahren bemerkenswert gutkotiert an der Therapiebörse. Sie füllt die Kassen der diversen stationärenwie ambulanten Therapie- und Fortbildungseinrichtungen,und ein Ende der «Borderline-Hausse» ist nicht absehbar.Auch die Klinik Littenheid ist bei dieser Entwicklung an vordersterFront dabei. Dies belegt der kontinuierliche Anstieg derdiagnostizierten Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typussowie der Anstieg der mit dieser Störung einhergehenden Mehrfachdiagnosen(siehe Statistik von 1997 bis 2001 im <strong>Jahresheft</strong>2002). Nicht zuletzt führte dies auch zur folgerichtigen Implementierungneuer störungsspezifischer Behandlungseinheiten(Pünt Nord) und Behandlungsmethoden (DBT und TFP).Aber auch über die Therapieszene hinaus ist das «Borderline-Syndrom» derart präsent, dass es dem interessierten Laien ins Augespringt, wenn nicht aus den Ohren quillt. Es wird multimedialmit Getöse und Eventcharakter inszeniert, sei es als Theaterstück(z.B. Thea Dorn), sei es als musikalische Performance undVideoclip (z.B. Marilyn Manson) oder als Betroffenen-Doku imSchweizer Fernsehen (z.B. über das Leben mit einer multiplen Persönlichkeit).Und betrachtet man die Flut der fach- und populärwissenschaftlichenVeröffentlichungen zum Thema und die schierunendliche Zahl der Einträge im Internet, so drängt sich der Eindruckauf: Die Borderline-Störung ist zur typischen seelischen Störungunserer Epoche geworden. Das Anliegen dieses Artikels ist es,diesen Eindruck zu überprüfen, indem er die folgenden Fragen zubeantworten versucht: Inwiefern taugt das diagnostische Konstruktder BPS als Beschreibungskategorie realer gesellschaftlicher Prozesse?Gibt es Korrespondenzen zwischen der Zeitgeist-Diagnose BPSund realen psychosozialen Erfahrungen unserer Epoche? Für welchegesellschaftlichen Befunde ist die Diagnose aussagekräftig?Leben wir gar in einer Borderline-Gesellschaft?1. Eröffnung der Kampfzone:Die Borderline-Persönlichkeitsstörung als Ausdruckeines Lebens im Ausnahmezustand1.1 Eine idealtypische Fallvignette («Anna»)Zum Eintrittsgespräch auf unserer Psychotherapiestation kommtAnna in Begleitung ihrer Mutter. Auf unsere Frage, ob sie ihreMutter bei dem Gespräch dabei haben wolle, antwortet sie resolut,dass das nicht nötig sei. Die Mutter macht auf mich einenbedrückten und besorgten Eindruck. Sie scheint verunsichert.Beim Abschied geht sie auf ihre Tochter zu, um sie zu umarmen,aber Anna wehrt ab und bedeutet ihrer Mutter, dass sie gehenkönne, sie käme schon klar ...Anna ist 20 Jahre jung, und mit ihrem aparten, schmalenGesicht, den dunkelbraunen, wachen Augen und ihrem langen,braunen Haar erscheint sie ausgesprochen hübsch. Sie ist normalschlank und hat sich körperbetont gekleidet. An beiden Unterarmenlassen sich mehrere, ca. 5–10 cm lange Schnittnarben erkennen.Zu Beginn des Gesprächs wirkt Anna sehr angespannt undmisstrauisch. Zunächst stockend und im Verlauf des Gesprächszunehmend flüssig erzählt sie ihre Lebensgeschichte:Sie kommt direkt aus dem Spital, wo man ihr den Magen ausgepumpthat. Am Abend davor habe sie es nicht mehr ausgehaltenund Schluss machen wollen. Ihr Freund habe sie sitzen lassen,obwohl sie verabredet gewesen seien. Er habe ihr über ein SMSmitgeteilt, dass er verhindert sei. Stellen Sie sich das mal vor,einfach so über ein SMS! Einmal mehr sei sie von einem Mannbitter enttäuscht worden. Da sei sie wieder mal bedient gewesen,habe kein Land mehr gesehen, habe sich unerträglich einsam undleer gefühlt, habe sich dann besoffen, ein paar Joints geraucht, undda sie einfach nicht zur Ruhe gekommen sei, habe sie noch dieSchlaftabletten ihrer Mutter eingeschmissen. Leider habe ihreMutter was gemerkt. In die Therapie gehe sie eigentlich auch nur,weil ihre Mutter es nicht mehr länger aushielte mit ihr.Anna wohnt bei ihrer Mutter und deren Freund in einer Blockwohnung.Sie hat eine 10 Jahre ältere Schwester, welche bereitsverheiratet ist und eine eigene Familie hat. Ihr Vater lebt im Nachbardorfmit einer Frau zusammen, welche Anna auf den Tod nichtausstehen kann. Ihre Eltern haben sich voneinander getrennt, alsAnna fünfjährig war. An ihre frühe Kindheit kann sich Anna kaumerinnern. Sie wisse nur, dass sie eigentlich nicht eingeplant gewesenwar. Ihre Mutter sage immer, dass sie ihretwegen habe arbeitengehen müssen. Woran sich Anna erinnern kann, ist, dass sie mitihrer Schwester viel allein zu Hause gewesen sei und dass ihreEltern abends viel gestritten hätten. Dabei seien öfters die Fetzengeflogen, und auch sie sei vom Vater immer wieder verdroschenworden.In den Kindergarten sei sie ungern gegangen, sie habe sich dortimmer fremd und ausgeschlossen gefühlt. In der Schule sei es dann11
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