François Gremaud, Klinischer Psychologe JugendpsychiatrieEin Lehrer, ein Psychologe – zwei Identitätenbei der Früherkennung seelischer Störungen36Mein erster Kontakt mit Jugendlichen geschahin der Zeit, als ich als Lehrer tätigwar. Damals, in einer kleinen Privatschule,waren «schwierige» Jugendliche mit Elternin bequemen finanziellen Situationen in Sicherheit, weit entferntvon den öffentlichen Schulen, wo die Probleme angefangen hatten.Solche Jugendliche zeigten oft eine «Karriere» mit verschiedenenErfahrungen in unterschiedlichen Schulen. Der Kontakt mitKindern war mir schon durch verschiedene Lehraufträge in Primarschulenbekannt. Auch dort hatte ich die Möglichkeit, im Alltagmit schwierigen Kindern zu arbeiten. In meiner beruflichenTätigkeit als Psychologe im EPD (externer psychiatrischer Dienst)Sirnach, die seit April 2002 läuft, werde ich mit den beiden Identitätendes Lehrers und des Psychologen konfrontiert. Diese beidenErfahrungen erlauben mir, einen Blick aus zwei Richtungenauf die ambulante Betreuung von Kindern und Jugendlichen zuwerfen. Zwei Möglichkeiten, mit einer Person in Kontakt zu treten.Zwei Arten, diese Person in ihrer gesellschaftlichen Umgebungzu erleben.Lehrer melden anDie schulische Umgebung, die durch den Lehrer repräsentiertwird, wirkt bekanntlich prägend auf die Kinder, insbesondere aufKinder, die Probleme haben.«Er ist nicht mehr tragbar, er muss in eine Privatschule», sagtendie einen. «Wir haben ihn angemeldet», sagten die anderen. Angemeldet.Das Wort, das bei den Lehrern wie eine Befreiung klingt.Der Jugendliche ist beim Psychologen angemeldet. Alles wird besser.Wir sind gewappnet gegenüber den Eltern. Im schlimmstenFall kann man das Kind in eine Institution schicken. Oder in eineandere Gemeinde.Was macht der Psychologe? Keine Ahnung. Irgend etwas...Einen Test, glaubt man. Ja, testen ist immer gut. Vielleicht redeter mal mit den Eltern. Ab und zu muss der Jugendliche mitten ineiner Lektion weggehen «zu seinem Termin», teilt man anderenneugierigen Schülern mit. Der Psychologe, der eigentlich nicht zuuns gehört, der aber trotzdem ab und zu die Pause in unsererSchule verbringt. Er macht seinen Job im Einzelkontakt, übernimmtdie «Angemeldeten». Sehr weit weg vom Lehreralltag.Trotzdem ist es wichtig, dass man einen solchen Ansprechpartnergewinnt. Die Eltern beschwerten sich oft, dass ich als Lehrer etwasgegen die schlechten Leistungen ihres Kindes unternehmen müsste.Vielleicht habe ich zu wenig aufgepasst, die Angst vor dem Versagen.Soll ich die Schuld tragen, wenn ein Kind nicht aufmerksamist, in die Aussenseiterrolle kommt, mich beschimpft? AllesFragen, die noch vor zehn Jahren fast kein Thema in der Schulewaren. Eine Veränderung in unserer Gesellschaft, deren Auswirkungauf Lehrer sowie Schüler sicher bis in die Thurgauer Schulezu spüren ist. Am Besten melde ich das Kind eben beim Psychologenan. Er kommt einmal. Er schaut, macht sich Notizen, ist weitweg von den Telefonaten der Eltern am Abend, den Korrekturenusw.Eine Rückmeldung, eine Begegnung mit den Eltern. EinJugendlicher zeigt Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, er störtdie Anderen . . . Gemäss testpsychologischer Untersuchung ist eraber nicht dumm. Er könnte es schaffen. Die Konzentration. Dassagen die Eltern auch, dass dies das Problem ist. Was macht manjetzt? Soll er das Jahr wiederholen? Soll er für eine Zeit nachFrankreich gehen, damit er ohne Schwierigkeiten zurückkommt?Die Eltern fragen, der Lehrer versucht, sich abzugrenzen. Alltagsproblemezu Hause: Die Mutter ist alleinerziehend. Sie ist überfordertmit den Problemen des Kindes, der Lehrer auch.Psychologen agierenDer Psychologe übernimmt seine Rolle. Es ist noch ein bisschenfrüh, um den Eltern und dem Lehrer eine Rückmeldung zu geben.Er hat Kontakt mit den Eltern aufgenommen, mit dem Jugendlichengeredet. Zuerst ihm gut zuhören. Er meint, er habe Schwierigkeiten,sich in der Schule zu konzentrieren, insbesondere beiFächern, die er nicht mag. Die Mutter, die ihn begleitet, hört,nickt, bringt Beispiele aus dem Alltag zu Hause.Dem Jugendlichen ist es peinlich. Mit 14, begleitet von Mama,die sagt, dass er am Abend nicht mehr mit ihr redet. Zuerst schauen,ob der Jugendliche überhaupt motiviert ist. Die Mutter ist esauf jeden Fall! Eine Zusammenarbeit mit den Eltern, wo vielewichtige Informationen gesammelt werden können: Anamnese,Umgang mit der Familie, mit den Peers, mit sich selbst. EineMikrosicht über den Einfluss neuer gesellschaftlicher Aufgabenfür die Familienmitglieder (monoparentale Familie, Zusammenwohnenmit Kindern des neuen Partners usw.). Die Planung einesProzederes: meistens eine testpsychologische Untersuchung. DasSchwierigste, das man dem Jugendlichen, manchmal auch denEltern, mitteilen muss. Warum? Wird ein IQ gemessen? Ja, auchdie Konzentration, die Ablenkbarkeit. Da denkt der Jugendliche
an Bücher, die man in billigen Buchhandlungen sieht: «Wie kannich meinen IQ erhöhen?» Bei den Eltern, die Angst, ein dummesKind zu haben. «Das kann man sich heutzutage nicht mehr leisten.»Die Angst, dass das bisherige Erklärungsmodell («der Lehrerist schuld», «mein Kind ist begabt, aber es kann mit Peers nichtumgehen») nicht mehr gilt. Dann tritt eine genauere Informationüber Sinn einer solchen Abklärung in den Vordergrund. Diepsychologische Abklärung ist wie ein Startpunkt für die Therapie,wie beim Hausarzt, wo man fragt, wo es weh tut. UnterschiedlicheReaktionen werden gezeigt: Unruhe, Ärger, Kooperation, Streitzwischen Kind und Eltern («Sag doch dem Doktor, dass du zuHause nicht gehorchst . . .»), teilweise auch Beruhigung.Zweiter Schritt: das ganze Helfersystem einschalten: die Lehrerinanrufen, einen Besuch in der Schule planen, insbesondere beiKindern. Ein wichtiger Aspekt, mal einen Blick in das Milieu, indem das Kind sich bewegt, zu werfen. Eines Tages steht derPsychologe auf einem Schulhof. Kindergeschrei, komische Blickevon Kindern: «Wer ist das?» Die Schule, eine Institution, die ähnlichfunktioniert wie eine kleine Gesellschaft. Erster Kontakt mitder Lehrperson. Der Wunsch nach Kooperation ist vorhanden. Abund zu gibt es einen kühlen Empfang vom Schulleiter: Der Lehrerhat sich bewaffnet. Er sitzt schweigsam da, während der Psychologeeine kurze Zusammenfassung der bisherigen Kontakte mit demKind rapportiert. Solche Kontakte lösen je nach Situation unterschiedlicheGefühle aus. Meistens, wenn das Kind keine grossenSchwierigkeiten zeigt, ist die Motivation beim Lehrer vorhanden.Bemerkungen bezüglichder Erziehungsind nicht selten wie:«Wissen Sie, dieseFamilie ist bekannt.Die Mutter ist nichtstabil. Alle habenSchwierigkeiten. FragenSie meine Kollegen,die die Geschwisterals Schüler«Die psychologische Abklärungist wie ein Startpunktfür die Therapie,wie beim Hausarzt, woman fragt, wo es wehtut.»haben . . .» Wieder Situationen, die beschrieben werden . . . Inwiefernsolche Hinweise auf die Seele des Kindes eine Auswirkunghaben, ist ein anderes Thema. Idealerweise hat sich der Psychologeeine Schullektion angeschaut. Im Einzelkontakt stellt das Kindeinen Teil «seiner» Gesellschaft dar: Themen wie Scheidung, unsichereZukunft, immer mehr Stress in der Schule sind hier zu beobachten.Das Kind mit seiner Identität kann wie eine Mikrogesellschaftbetrachtet werden, wo ein Eltern- bzw. Helfersystem funktionierenmuss.Zwei Identitäten, die bei der Früherkennung einTeam bildenZwei unterschiedliche Ausbildungen, zwei Identitäten, zwei Möglichkeitenin unserer Gesellschaft, ein Kind zu erleben. Diese beidenIdentitäten durfte ich kennen lernen. Typische Beispiele inunserer Gesellschaft? Vielleicht.Beide Rollenbilder bilden Umstände in unserer Gesellschaft ab:Der Lehrer muss in unserer schnelllebigen Zeit flexibel sein, dieAutorität wird mehr hinterfragt. Beim Kinderpsychologen werdendie Bedürfnisse und die Entwicklung des Einzelnen in unsererGesellschaft betont. Im Sirnacher Alltag bedeutet es die Möglichkeit,zwei unterschiedliche Berufe besser zu verstehen, damit eineZusammenarbeit erreicht werden kann. Das Kind als Zentrum desInteresses, weg von Vorurteilen und Ängsten. In unserer kleinenambulanten Stelle, in einer Region, wo der persönliche Kontaktseine Bedeutung hat, gehört diese Zusammenarbeit zum Alltag.Dank Helferkonferenzen zwischen Eltern, der Schule und Behördenwar es oft möglich, eine optimale Betreuung anzubieten, beider nicht nur reaktiv gehandelt wurde, sondern auch präventiv.Die Früherkennung eines (prä)symptomatischen Störungsbildeswird also nicht nur in ambulanter Abklärung angestrebt, sondernauch im Alltag des Kindes und in seiner gesellschaftlichen Umgebung.Die Rolle des Therapeuten und des Lehrers findet auf dieserEbene eine Ähnlichkeit: eine Person zu verstehen, damit ein optimalerZugang erreicht werden kann.37
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