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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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32zwischen innen und aussen, zwischen seiner inneren Erlebnisweiseund äusseren Gegebenheiten, mit denen er sich auseinanderzusetzenhat.Es geht in der Therapie darum, mit dem Jugendlichen einenpsychischen Raum zu eröffnen, darum, dass er eigene Gefühle beisich selbst (wieder) vermehrt wahrzunehmen vermag, den Kontaktund die verloren gegangene Beziehung zu sich selbst wieder findet.Es ist notwendig, die verschiedensten Gefühle des Adoleszentenanzuerkennen, ihn bei seinem jeweiligen Affekt «abzuholen», damiter diesen bei sich selbst erneut wahrnehmen kann. Auchwiederholte verzweifelte und wütende Rundumschläge müssenmöglich sein. Für den Adoleszenten, der in der Klinik hospitalisiertist, ist es wichtig, die Hilflosigkeit und Ohnmacht, mit der ersich noch in ungleich stärkerem Ausmass als seine Kollegen herumquält,ein Stück weit auszuhalten, mit- und durchzutragenund dabei gleichwohl die Hoffnung auf Veränderung und Verbesserungaufrecht zu erhalten, auch in Phasen grosser Verzweiflungund Stagnation. Angesichts des zunehmenden Kosten- und damitZeitdrucks ist dies insbesondere bei schwerer erkrankten Adoleszentenoft eine grosse Herausforderung.Als Therapeutin übernehme ich oft «Hilfs-Ich»-Funktion. ZurFörderung der Selbstregulierung des Jugendlichen gehe ich an seinemIch entlang, im Bemühen, seine Ich-Leistungen zu honorieren:z.B. die Fähigkeit, Signale zu geben, die verstanden werdenkönnen, die Fähigkeit, sich zu äussern. Immer wieder ist der Fragenachzugehen, wo Ich-gerechte, gute Besetzungen des Adoleszenten,seine Interessen und Faszinationen liegen, wo es ihmgelingt, sich konstruktiv und gut einrichten zu können, damit ersich wohl fühlt. Solchermassen wird die Hoffnung entwickelt undgefördert, selbst etwas zu bewirken und die Umwelt gestalten zukönnen. Gerade bei Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung sehrgestört wurden und diese Hoffnung oft Gefühlen der Ohnmachtgewichen ist, spielt dies eine bedeutsame Rolle und kann –manchmal oft lange im Nachhinein wahrgenommen – emotionaltragende Erinnerungsspuren hinterlassen.Als Therapeutin gehe ich weiter der Frage nach den positivenSelbstanteilen in den Ausdrucksweisen des Adoleszenten nach: Ersoll eine Sicherheit in sich selbst finden können. Misstrauen kannz.B. auch eine Schutzfunktion sein, Angst vermag hilfreich zusein, um aufmerksam zu bleiben. Es geht darum, einen Sinn inden verschiedenen Ausdrucksweisen und ebenso in den Symptomenzu finden. Eine psychodynamische Bedeutung im Symptomder Bulimie liegt z.B. in dem Wunsch, etwas bekommen zu wollen,aber nicht das Richtige zu bekommen. Oder die Anorexie gibteine Sicherheit: «Das bin ich», die in der Abgrenzung von denanderen liegt. Diese Anerkennung eines Symptoms – auch wennes noch so selbstdestruktiv und scheinbar dysfunktional ist – gehtder oft schwierigen Arbeit der Veränderung voraus. Scheinbar dysfunktionalist das Symptom insofern, als es einer ganz bestimmteninnerpsychischen Balance Rechnung trägt. Eine Aufgabe desSymptoms und Veränderung ohne Symptomverschiebung bringtdieses Gleichgewicht aus seiner Balance und ruft innerpsychischeVerwirrung und Verunsicherung hervor. Die psychische Veränderungsbereitschaftals Voraussetzung für einen Veränderungsprozessbedeutet viel intrapsychische Arbeit. Der Veränderungsprozesserfordert Zeit – manchmal mehr, manchmal weniger, wie alleEntwicklungs- und Wachstumsprozesse – und vollzieht sich nachpsychischen Gegebenheiten, die sich nicht entsprechend äusserenRealitäten kanalisieren lassen.In diesem Sinne kann das Ziel einer stationären Einzelpsychotherapienebst einer Ich-stützenden und stabilisierenden Begleitungauch in der Erarbeitung der Bereitschaft und der Einleitungeiner vertieften therapeutischen Arbeit in einer nachfolgendenambulanten Therapie liegen.Fazit:Die Adoleszenz ist eine vulnerable Entwicklungsphase, in welcherStörungsanfälligkeiten grösser sind als in manch anderer Entwicklungsphase.Angesichts einer komplexen, vielfältigen und raschemWandel unterworfenen gesellschaftlichen Realität könnte man denWeg des jungen Menschen durch die Adoleszenz in ein selbstbestimmtes,kreatives und aktives Erwachsenenleben mit dem Weg einesBootes zwischen Scylla und Charybdis hindurch vergleichen.Die Adoleszenten brauchen auf diesem Weg beständige und verlässlicheUnterstützung und Begleitung, die oft nicht mehr ausschliesslichEltern und Lehrer zu geben vermögen. Es sind weitereMenschen gefragt, insbesondere engagierte Fachleute aus dem Gesundheits-und Sozialbereich, aus dem Bereich der Justiz und vonbehördlicher Seite. Jugendlichen in besonders grosser Not, Verzweiflungund ausweglos erscheinenden Situationen, die in dieseroder jener Form auffällig werden und aus dem sozialen Netz herauszufallendrohen, beizustehen und mit ihnen nach gangbaren Lösungenzu suchen, ist sowohl eine menschliche und fachliche Herausforderungals auch eine präventive und lohnenswerte Aufgabe!

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