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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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12besser gelaufen, sie sei eine gute Schülerin gewesen. Allerdings seisie auch dort eine Aussenseiterin geblieben. Erst in der Sekundarschulehabe sie eine richtig gute Freundin gehabt. Die sei dannaber leider vom Ort weggezogen. Nach der Trennung ihrer Elternhat Anna zunächst mit ihrer Mutter und ihrer Schwesterzusammengelebt. An diese Zeit kann sich Anna nur vage erinnern.Sie habe sich oft einsam gefühlt. Ihre Mutter habe ja immer arbeitenmüssen. Die meiste Zeit habe sie mit ihrer Schwester alleine zuHause verbracht. An Spielkameradinnen kann sie sich nicht erinnern.Manchmal habe sie von ihrem Vater Geschenke zumGeburtstag oder zu Weihnachten bekommen. Diese habe ihr dieMutter aber wieder abgenommen mit der Begründung: «Der willdich nur über den Tisch ziehen». Ein paar Jahre später, als siezwölfjährig und ihre Schwester bereits ausgezogen war, habe ihreMutter einen neuen Mann kennen gelernt, der auch kurz daraufbei ihnen eingezogen sei. Daraufhin habe ihr Unglück so richtigbegonnen. Mit dem neuen Partner ihrer Mutter habe sie sich nieverstanden. Der habe immer an ihr herumgemäkelt und sie auchbeschimpft und geschlagen. Sonst habe er abends mit der Mutter«Die Borderline-Störung ist zur typischen seelischenStörung unserer Epoche geworden.»vor der Glotze gesessen und mit ihr gesoffen. Da habe sie sich nurnoch in ihr Zimmer zurückgezogen. Als ihre Mutter einmal füreine Woche ins Spital musste, habe er sich an sie herangemachtund sie zu sexuellen Handlungen gezwungen. Sie habe das dannihrer Mutter erzählen wollen, diese habe sie aber nur beschimpft.Danach sei das mit den Wutausbrüchen losgegangen. Sie habemehrfach ihr Zimmerinventar kurz und klein geschlagen. Als ihreMutter sie einmal rausschmeissen wollte, habe sie ihre Sachengepackt und sei zu ihrem Vater gezogen. Dort sei es aber nochschlimmer gewesen, weil sie sich mit dessen Freundin gar nichtverstanden habe. Nach einem halben Jahr sei sie wieder zur Mutterzurückgegangen. Danach habe sie begonnen, ihr eigenes Lebenzu leben. Anna erzählt, dass sie die Folgezeit viel ausser Haus mitihrer Clique verbracht hat, dass sie erste Beziehungen zu Männernhatte, die aber nie länger andauerten, dass sie angefangen hat zukiffen und über eine Diät in die Bulimie hineingerutscht ist. DieBulimie sei ihr bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Annaberichtet von täglichen Ess/Brech-Anfällen. Anna hat vor zweiJahren eine KV-Lehre begonnen, diese aber kürzlich abgebrochen,weil sie mit ihrer Ausbildnerin nicht mehr klar kam. Mit denSelbstverletzungen hat Anna begonnen, nachdem sie vom Vaterzur Mutter zurückgezogen ist: «Mit 15 habe ich begonnen, michselbst zu verletzen. Ich verkroch mich in meinem Zimmer. Es warwie immer – die haben mich nur angebrüllt und dann die Türenzugeknallt. Immer haben sie am Anfang gesagt, sie würden michverstehen, und dann? Nicht die blasseste Ahnung haben die! Ichhabe mich in meinem Hochbett verkrochen. Wie von selbstbegannen meine Hände einen spitzen Gegenstand zu suchen. Siefanden eine Nagelschere. Vielleicht wollte ich nur einmal wissen,wie das ist. Doch dann sind da endlich die Schmerzen, aber diesind anders als die Schmerzen, die mir meine Eltern zugefügthaben. Ich sehe das Blut und habe das Gefühl, die Elternschmerzenendlich überwunden zu haben. Am nächsten Morgen habe ichmeine Mutter angelogen, habe ihr gesagt, dass ich mich im Schlafwohl auf die Nagelschere gelegt hätte. Meine Mutter hat michbloss angeschrien und gesagt, ich solle das Bett gefälligst selbersauber machen.»1.2 KommentarAnnas Lebensgeschichte zeigt eindrucksvoll: Menschen mit einerBPS hatten als Kind nicht nur eine schwierige Ausgangsbasis,sondern sie haben in ihrem Leben nie die Unterstützung erfahren,die ihnen geholfen hätte, ihre Emotionen angemessen wahrzunehmenund zu regulieren. Im Gegenteil, sie sind in einer invalidisierendenUmgebung aufgewachsen, d.h. in einer Umgebung, in derihre negativen emotionalen Erfahrungen für nicht gültig (valide)erklärt wurden. In einem solchen Umfeld werden schmerzlicheGefühle des Kindes heruntergespielt, missachtet, ignoriert oder alsfalsch zurückgewiesen. Die Folge ist eine wachsende Diskrepanzzwischen den eigenen Erfahrungen und dem, was durch die Umwelt,vornehmlich durch die Eltern, als richtig bestätigt wird.Dem heranwachsenden Kind wird es so unmöglichgemacht, zu lernen, wie es seineEmotionen wahrnehmen, regulieren und alsangemessene Reaktionen auf Umweltreizeannehmen kann. Die mangelnde Validierungihrer Binnen- und Aussenwelterfahrungenführt, wie der Fall Anna zeigt, zu unerträglichenGefühlen des Alleinseins und der chronischen Leere, welchevon heftigen Gefühlsausbrüchen durchbrochen werden undoft mit grossen Stimmungsschwankungen verbunden sind. DaMenschen wie Anna nie gelernt haben, ihre Gefühle richtig wahrzunehmenund adäquat mit ihnen umzugehen, befinden sie sich inaffektiver Instabilität und leiden unter permanenter Hochspannungsowie am Fehlen eines klaren Identitätsgefühls. Diese Unsicherheitdie eigene Identität betreffend umfasst das ganze SelbstundKörperbild. Sie führt auch zu Unsicherheiten in Lebensbereichenwie der sexuellen Orientierung, den langfristigen Zielen oderBerufswünschen, der Beziehungsgestaltung und der Partnerwahloder den persönlichen Wertvorstellungen.Anna: «Das Schlimmste ist, dass ich eigentlich nicht weiss, weroder was ich bin. Eigentlich bin ich wie eine Marionette oder besser,meine Stimmungen sind Marionetten, deren Fäden irgendwer,nur nicht ich, in der Hand hält. Ich kann alles sein oder eben garnichts. Und meist bin ich meinen Stimmungen ausgeliefert. Dastreibt mich in unerträgliche Spannungen hinein, die ich manchmalmit Saufen oder Kiffen, am besten aber mit Selbstverletzungenin den Griff bekomme.»Welcher Ausweg bleibt Menschen wie Anna, die täglich aufihrem inneren Vulkan reiten, aber nicht wissen, wie ihnengeschieht und wie sie damit umgehen könnten? Sie suchen sichVentile, die sich ihnen anbieten und die ausreichend entlastendwirken: Selbstverletzungen, Ess/Brech-Anfälle, Alkohol-, DrogenundMedikamentenmissbrauch oder Risikoverhalten wie schnellesAutofahren, Autocrashen, U-Bahn-Surfen oder wahllosen, ungeschütztenSex. Und im verzweifelten Bemühen, ihre quälendenGefühle des Alleinseins und der Leere zu vermeiden, klammern siesich an Beziehungen, die sie wiederum in die Abgründe ihres Vulkanshineintreiben, da sie Nähe als bedrohlich empfinden undkaum länger ertragen können …

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