12besser gelaufen, sie sei eine gute Schülerin gewesen. Allerdings seisie auch dort eine Aussenseiterin geblieben. Erst in der Sekundarschulehabe sie eine richtig gute Freundin gehabt. Die sei dannaber leider vom Ort weggezogen. Nach der Trennung ihrer Elternhat Anna zunächst mit ihrer Mutter und ihrer Schwesterzusammengelebt. An diese Zeit kann sich Anna nur vage erinnern.Sie habe sich oft einsam gefühlt. Ihre Mutter habe ja immer arbeitenmüssen. Die meiste Zeit habe sie mit ihrer Schwester alleine zuHause verbracht. An Spielkameradinnen kann sie sich nicht erinnern.Manchmal habe sie von ihrem Vater Geschenke zumGeburtstag oder zu Weihnachten bekommen. Diese habe ihr dieMutter aber wieder abgenommen mit der Begründung: «Der willdich nur über den Tisch ziehen». Ein paar Jahre später, als siezwölfjährig und ihre Schwester bereits ausgezogen war, habe ihreMutter einen neuen Mann kennen gelernt, der auch kurz daraufbei ihnen eingezogen sei. Daraufhin habe ihr Unglück so richtigbegonnen. Mit dem neuen Partner ihrer Mutter habe sie sich nieverstanden. Der habe immer an ihr herumgemäkelt und sie auchbeschimpft und geschlagen. Sonst habe er abends mit der Mutter«Die Borderline-Störung ist zur typischen seelischenStörung unserer Epoche geworden.»vor der Glotze gesessen und mit ihr gesoffen. Da habe sie sich nurnoch in ihr Zimmer zurückgezogen. Als ihre Mutter einmal füreine Woche ins Spital musste, habe er sich an sie herangemachtund sie zu sexuellen Handlungen gezwungen. Sie habe das dannihrer Mutter erzählen wollen, diese habe sie aber nur beschimpft.Danach sei das mit den Wutausbrüchen losgegangen. Sie habemehrfach ihr Zimmerinventar kurz und klein geschlagen. Als ihreMutter sie einmal rausschmeissen wollte, habe sie ihre Sachengepackt und sei zu ihrem Vater gezogen. Dort sei es aber nochschlimmer gewesen, weil sie sich mit dessen Freundin gar nichtverstanden habe. Nach einem halben Jahr sei sie wieder zur Mutterzurückgegangen. Danach habe sie begonnen, ihr eigenes Lebenzu leben. Anna erzählt, dass sie die Folgezeit viel ausser Haus mitihrer Clique verbracht hat, dass sie erste Beziehungen zu Männernhatte, die aber nie länger andauerten, dass sie angefangen hat zukiffen und über eine Diät in die Bulimie hineingerutscht ist. DieBulimie sei ihr bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Annaberichtet von täglichen Ess/Brech-Anfällen. Anna hat vor zweiJahren eine KV-Lehre begonnen, diese aber kürzlich abgebrochen,weil sie mit ihrer Ausbildnerin nicht mehr klar kam. Mit denSelbstverletzungen hat Anna begonnen, nachdem sie vom Vaterzur Mutter zurückgezogen ist: «Mit 15 habe ich begonnen, michselbst zu verletzen. Ich verkroch mich in meinem Zimmer. Es warwie immer – die haben mich nur angebrüllt und dann die Türenzugeknallt. Immer haben sie am Anfang gesagt, sie würden michverstehen, und dann? Nicht die blasseste Ahnung haben die! Ichhabe mich in meinem Hochbett verkrochen. Wie von selbstbegannen meine Hände einen spitzen Gegenstand zu suchen. Siefanden eine Nagelschere. Vielleicht wollte ich nur einmal wissen,wie das ist. Doch dann sind da endlich die Schmerzen, aber diesind anders als die Schmerzen, die mir meine Eltern zugefügthaben. Ich sehe das Blut und habe das Gefühl, die Elternschmerzenendlich überwunden zu haben. Am nächsten Morgen habe ichmeine Mutter angelogen, habe ihr gesagt, dass ich mich im Schlafwohl auf die Nagelschere gelegt hätte. Meine Mutter hat michbloss angeschrien und gesagt, ich solle das Bett gefälligst selbersauber machen.»1.2 KommentarAnnas Lebensgeschichte zeigt eindrucksvoll: Menschen mit einerBPS hatten als Kind nicht nur eine schwierige Ausgangsbasis,sondern sie haben in ihrem Leben nie die Unterstützung erfahren,die ihnen geholfen hätte, ihre Emotionen angemessen wahrzunehmenund zu regulieren. Im Gegenteil, sie sind in einer invalidisierendenUmgebung aufgewachsen, d.h. in einer Umgebung, in derihre negativen emotionalen Erfahrungen für nicht gültig (valide)erklärt wurden. In einem solchen Umfeld werden schmerzlicheGefühle des Kindes heruntergespielt, missachtet, ignoriert oder alsfalsch zurückgewiesen. Die Folge ist eine wachsende Diskrepanzzwischen den eigenen Erfahrungen und dem, was durch die Umwelt,vornehmlich durch die Eltern, als richtig bestätigt wird.Dem heranwachsenden Kind wird es so unmöglichgemacht, zu lernen, wie es seineEmotionen wahrnehmen, regulieren und alsangemessene Reaktionen auf Umweltreizeannehmen kann. Die mangelnde Validierungihrer Binnen- und Aussenwelterfahrungenführt, wie der Fall Anna zeigt, zu unerträglichenGefühlen des Alleinseins und der chronischen Leere, welchevon heftigen Gefühlsausbrüchen durchbrochen werden undoft mit grossen Stimmungsschwankungen verbunden sind. DaMenschen wie Anna nie gelernt haben, ihre Gefühle richtig wahrzunehmenund adäquat mit ihnen umzugehen, befinden sie sich inaffektiver Instabilität und leiden unter permanenter Hochspannungsowie am Fehlen eines klaren Identitätsgefühls. Diese Unsicherheitdie eigene Identität betreffend umfasst das ganze SelbstundKörperbild. Sie führt auch zu Unsicherheiten in Lebensbereichenwie der sexuellen Orientierung, den langfristigen Zielen oderBerufswünschen, der Beziehungsgestaltung und der Partnerwahloder den persönlichen Wertvorstellungen.Anna: «Das Schlimmste ist, dass ich eigentlich nicht weiss, weroder was ich bin. Eigentlich bin ich wie eine Marionette oder besser,meine Stimmungen sind Marionetten, deren Fäden irgendwer,nur nicht ich, in der Hand hält. Ich kann alles sein oder eben garnichts. Und meist bin ich meinen Stimmungen ausgeliefert. Dastreibt mich in unerträgliche Spannungen hinein, die ich manchmalmit Saufen oder Kiffen, am besten aber mit Selbstverletzungenin den Griff bekomme.»Welcher Ausweg bleibt Menschen wie Anna, die täglich aufihrem inneren Vulkan reiten, aber nicht wissen, wie ihnengeschieht und wie sie damit umgehen könnten? Sie suchen sichVentile, die sich ihnen anbieten und die ausreichend entlastendwirken: Selbstverletzungen, Ess/Brech-Anfälle, Alkohol-, DrogenundMedikamentenmissbrauch oder Risikoverhalten wie schnellesAutofahren, Autocrashen, U-Bahn-Surfen oder wahllosen, ungeschütztenSex. Und im verzweifelten Bemühen, ihre quälendenGefühle des Alleinseins und der Leere zu vermeiden, klammern siesich an Beziehungen, die sie wiederum in die Abgründe ihres Vulkanshineintreiben, da sie Nähe als bedrohlich empfinden undkaum länger ertragen können …
Was die weiteren psychosozialen Entstehungsbedingungeneiner BPS angeht, so zeigt auch Annas Lebensgeschichte: Derfamiliäre Hintergrund ist oft durch Alkoholismus, Depressionenund emotionale Störungen, durch Feindseligkeit, Streit undChaos gekennzeichnet. Nicht selten ist die Borderline-Kindheitein wüstes Schlachtfeld, geprägt durch frühe Erfahrungen vonsexueller, körperlicher und seelischer Gewalt sowie durch dieTrümmer gleichgültiger, abweisender, vernachlässigender, fehlenderoder oft wechselnder Bezugspersonen.2. Ausweitung der Kampfzone: Die Multioptionsgesellschaftals gesellschaftliche Globalisierung desAusnahmezustandsDamit kommen wir zur Kernfrage dieses Artikels: Inwiefern istder oben beschriebene individuelle Ausnahmezustand der Borderline-PersönlichkeitAusdruck globalgesellschaftlicher Prozesse undSymptome? Leben wir in einer Gesellschaft des Ausnahmezustands?Geht die Gesellschaft «borderline»? Welche gesamtgesellschaftlichenEntsprechungen finden wir für die Leitsymptomatikund die psychosozialen Entstehungsbedingungen der BPS?2.1 Leitsymptom Identitätsdiffusion: Nicht wissen, wer manist, wie und wofür man leben sollBei aller Unterschiedlichkeit ihrer Untersuchungsansätze undBefunde, in einem Punkt sind sich die von mir zu Rate gezogenenSoziologen (Ulrich Beck: Die Risikogesellschaft, 1986; PeterGross: Die Multioptionsgesellschaft, 1994) einig: Die aktuelleModerne zeigt eine dominierende Transformationskraft, ein kinetischesGrundmuster – die Steigerung der Individualisierung undder damit verbundenen individuellen Optionen bei gleichzeitigerEntkernung, Umschmelzung, Vernichtung und Pluralisierung vonTraditionen, Verbindlichkeiten und Werten, und das in immerschnellerem Tempo. Laut Beck führt Modernisierung zur Herauslösungdes Individuums aus historisch vorgegebenen Sozialformenund -bindungen (Freisetzungsdimension) und zum Verlust vontraditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen,Glauben und leitende Normen (Entzauberungsdimension).Damit ist gemeint, dass sich die moderne Identitätsbildung nichtmehr länger an den verbindlichen Traditionen und Werten vonsozialen Klassen, Schichten oder homogenen sozialen Milieusorientiert und dass wichtige Sozialisationsagenturen wie Familie,Geschlechtslage, Ehe, Elternschaft, Beruf, Jugend, Alter und Religionsgemeinschaftenttraditionalisiert, pluralisiert und individualisiertwerden. Die Menschen werden in immer neuen und immerturbulenteren Wellen aus traditionalen, familiären, nachbarschaftlichenund kulturellen Bindungen herausgelöst und in ihrenLebenswegen durcheinander gewirbelt. Es wird ein gleichzeitigerProzess der Individualisierung und Diversifikation von Lebensformenund Lebensstilen in Gang gesetzt, der dem Individuum dieganze Bürde der Lebensgestaltung allein überlässt. Mit der Folge,dass das Individuum gesellschaftliche Entwicklungen wie Arbeitslosigkeit,Armut, Vereinzelung oder Krankheit als selbstverschuldetespersönliches Schicksal erlebt und nicht mehr durch die entlastendekollektive, soziale Erfahrung der Gemeinschaft gestütztwird. Verblendet durch die quotenträchtigen Zerstreuungstechnikender Massenmedien nimmt das Individuum die «Gewalt dessozialen Zusammenhangs» wenn überhaupt, nur noch als unterhaltsamesEvent wahr (wie die Anti-Globalisierungsdemos oderden Irak-Krieg). Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Vermassungs-,Vereinzelungs- und Freisetzungsprozesse in denforciert kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften nicht – wienoch Marx hoffte – durch die Kollektiverfahrung der Verelendungaufgefangen werden und zu sozialen Solidaritäts- und Reformbewegungenführen, sondern im Gegenteil zu einer noch verschärfterenVereinzelung, zum «vereinzelten Einzelnen».Was bedeutet das für die Identitätsbildung des modernen Ichs?Einsam steht es vor den 1001 Verheissungen der Multioptionsgesellschaftwie der abendliche Fernsehkonsument vor den 101Kanälen seiner Glotze und fragt sich verunsichert, wie und womites glücklich werden kann. Und glücklich werden muss es, das istder unerbittliche kategorische Imperativ der Moderne: Check dichein und werde glücklich dabei, wenn du’s nicht schaffst, Pechgehabt und selbst schuld! Und unversehens gerät das Projekt dermodernen Individuation zum permanenten High-Risk-Unternehmen:Du kannst hoch hinaus, aber auch tief fallen, halte dich fitfür alle Eventualitäten, was heute gilt, kann morgen schon ganzanders sein. Moderne Identität ist brüchig, vorläufig, immer aufdem Sprung. Werte werden okkasionell und optional gehandelt,das Projekt der Moderne hat das Individuum zum Projektil umgeschmolzen.Das Ich geht ins lebenslängliche mentale Fitnessstudiodes Selbst- und Change-Managements, Ich-Konturen werdenweich, Chaos wird akzeptabel als Ordnung für Selbstorganisation,die Selbstorganisation wird zur obersten Intelligenz einer kinetischenLebensführung erkoren, und als flankierende Massnahmedeckt es sich ein mit den neuesten Selbstkonzepten der multiplenPersönlichkeit, des Multi-Mind und der Ich-AG. Das solchermassendurchs Stahlbad der Modernisierung getunte Ich weiss: Daseinzige Beständige ist der Wandel, der Ausnahmezustand einerprekären Ich-Identität die goldene Regel, und nicht genau zu wissen,wer man ist und wofür man lebt, gerät zum Standortvorteil.2.2 Korrespondenzen zwischen den psychosozialen Entstehungsbedingungender BPS und den Veränderungen vonmikrosozialen Strukturen und Verhaltensweisen im Rahmender MultioptionsgesellschaftIn den entwickelten Wohlstandsgesellschaften der Nachkriegszeithaben sich die mikrosozialen Einheiten und Verhaltensweisenheterogenisiert, pluralisiert und fragmentarisiert. Stabile Familienstrukturen,die Kleinfamilie, die erweiterte Familie, Haushaltemit einem Verdiener, geographische Stabilität wurden durch einegrosse Vielfalt an neuen Mustern, Bewegungen und Trends ersetzt:■ Die grössten Veränderungen während der letzten 50 Jahre fandenwahrscheinlich im Bereich der sexuellen Moral, Rollen undPraktiken statt, angefangen bei der unterdrückten Sexualitätder fünfziger Jahre, über die Ethik der «freien Liebe» und «wildenEhe» der sexuellen Revolution der sechziger und siebzigerJahre, bis hin zu der grossen sexuellen Neubewertung in denAchtzigern, die massgeblich aus der Angst vor AIDS erwuchs.■ Die gesellschaftlichen Kräfte haben tiefe und andauerndeFreundschaften, Liebesbeziehungen und Ehen immer schwierigergemacht. Nahezu die Hälfte der Paare, die in den letztenzehn Jahren in der Schweiz geheiratet haben, werden sich wiederscheiden lassen. Da das soziale Leben immer kriegerischerund barbarischer wird, nehmen persönliche Beziehungen, dieangeblich Erleichterung von solchen Zuständen versprechen,den Charakter von Kampf an (Michel Houellebecq).13
- Seite 2: Die 14 Stationen der Klinik Littenh
- Seite 6 und 7: Dr. med. Markus Binswanger, Chefarz
- Seite 8 und 9: Neue Möglichkeiten des Umgangsmit
- Seite 10 und 11: 8«Die Gruppe bleibt dasSchicksal d
- Seite 12 und 13: 10Ablehnung von «Tiefenschwindel»
- Seite 16 und 17: 14■ Der Anteil der Kleinfamilien
- Seite 18 und 19: 16mer wieder am Anschlag, neue Lös
- Seite 20 und 21: 18darf. Psyches Schwestern, zu Besu
- Seite 22 und 23: Louis Chopard, Stationsleiter Pünt
- Seite 24 und 25: 22Alle vereinbarten Schritte werden
- Seite 26 und 27: 24Klinik Littenheid teilzunehmen, k
- Seite 28 und 29: 26Therapie der Borderline-Störunge
- Seite 30 und 31: 28eine atypische, persönlichkeitsb
- Seite 32 und 33: Noori Beg, Klinische Psychologin Ju
- Seite 34 und 35: 32zwischen innen und aussen, zwisch
- Seite 36 und 37: 34sen. Mit all den vom Jugendlichen
- Seite 38 und 39: François Gremaud, Klinischer Psych
- Seite 40 und 41: Die Defizit-Theorie des Alters hata
- Seite 42 und 43: 40 wird. Es geht nicht mehr um das
- Seite 44 und 45: Raymond Scheer, Bereichsleiter Pfle
- Seite 46 und 47: Dr. med. Jokica Vrgoc, Leitende Är
- Seite 48 und 49: NachleseBeiträge ausserhalb unsere
- Seite 50 und 51: 48 ein wahrer Erzähler nimmt sein
- Seite 52 und 53: Auswertung PoC 18 pro Quartal, Gesa
- Seite 54 und 55: Eintritte nach Kantonen 1998-2002Di
- Seite 56 und 57: Wir gratulieren54Dienstjubiläen 20
- Seite 59 und 60: Der Patient als PartnerUnsere Klini