Noori Beg, Klinische Psychologin JugendpsychiatrieAdoleszenz und Identität301. Adoleszenz – eine «normativeKrise»Adoleszenz – die Entwicklungsphase desÜbergangs ist ein psychosoziales Moratorium(Erikson): Es findet der Abschied von der Kindheit statt mitall den Sicherheiten, die im Latenzalter (8 –11 Jahre) Halt zu vermittelnvermochten. Mit dem Einstieg ins Erwachsenenalter, mitder Notwendigkeit, sich eigenständig in gesellschaftlichen Kontextenzu positionieren, findet eine vollkommene Infragestellungder früheren Gewissheiten statt: Die Sicherheit früherer Vorbilderwird erschüttert, die Beziehungen zu den bedeutungsvollen anderengestalten sich um. Das aktuelle Wertesystem wird um- undneu gebaut. Die sich in der Adoleszenz rasch erweiternden kognitivenVerarbeitungspotenziale erlauben intellektuelle Höhenflügeund Grössenphantasien, die jedoch bald wieder gebremst werdenangesichts von Realität und gesellschaftlichen Gegebenheiten. DerKörper in seiner Veränderung hin zur erwachsenen Festlegung derGeschlechtlichkeit verweigert sich nur allzu häufig bis anhin gewohntenVorstellungen. Triebhafte Wünsche treten zeitweise sehrbeunruhigend auf. Die Integration des sich unfreiwillig veränderndenKörpers, welcher sich so ganz der Kontrolle zu entziehensucht, ist oft ein recht beschwerlicher Weg. Die Ausübung vonAggression bekommt mit zunehmender körperlicher Stärke eineneue Bedeutung. Macht und Ohnmacht sind hochaktuelle undunausweichliche Themen.Nach dem Untergang früherer Selbstverständlichkeiten wird dieIdentitätssuche mit der Frage nach der eigenen Identität zentral. Sowird denn auch bei der Einleitung einer stationären Therapie häufigals vordringlicher Wunsch genannt: «Herauszufinden, wer ichbin», «die eigene Meinung finden, unbeeinflusst von dem, was dieErwachsenen sagen.» Die Sinnfindung wird wichtig mit der Frage:«Was will ich?» Es geht darum, das Eigene zu finden und sich damitim nächsten Lebensumfeld und in der gesellschaftlichen Wirklichkeitgestaltend einzubringen. Die berufliche Orientierung mitBerufswahl, Einstieg in das Berufsleben und damit verbundenerUnabhängigkeit, Selbständigkeit und Autonomie ist sowohl individuellerWunsch als auch gesellschaftliches Ziel.2. Die Lebenswelt der Adoleszenten in der gesellschaftlichenWirklichkeitDer Adoleszente befindet sich heute in einem gesellschaftlichenKontext, der aufgrund neuer Realitäten eine Vielzahl von Widersprüchenund schwer lösbaren Problemen enthält, mit denen erleben muss: Die Technik, von Menschen für Menschen geschaffen,entwickelt eine Eigengesetzlichkeit und trägt menschlichen undzwischenmenschlichen Bedürfnissen immer weniger Rechnung.Neben Fortschritten z.B. im Bereich der Gesundheitsforschungund Medizin, welche die Lebensqualität vieler Menschen verbessert,findet eine zunehmende Umweltzerstörung statt, welche sukzessivedie Gesundheit des Menschen und seine Lebensgrundlagebedroht. Globalisierungsphänomene lassen einerseits die Weltzwar überschaubarer scheinen durch rasche Informations- undKommunikationskanäle, führen andererseits jedoch zu verstärktenGefühlen des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht angesichts immerweniger durchschaubarer wirtschaftlicher und anderer Determinanten,welche politische Entscheidungen bestimmen oder zumindestmitbestimmen. Die rasche Weiterentwicklung modernerTechnologien erfordert eine immer schnellere Reizverarbeitung.Die einzelnen Errungenschaften werden immer kurzlebiger. Washeute modern ist, ist morgen bereits veraltet. Damit verändert sichauch der Wertewandel rasant.Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen und diesesWertewandels sind auch die Eltern der Adoleszenten hinsichtlichihrer erzieherischen Haltung verunsichert. Es ist heute eine grosseHerausforderung für Eltern, ihren Söhnen und Töchtern ein fassbaresGegenüber zu bleiben, welches Position zu beziehen vermagund Präsenz und Verlässlichkeit in der Beziehung anbietet. Angesichtsdieser schwierigen Aufgabe sind Eltern oft ratlos und überfordert,umso mehr, wenn eigene Belastungen hinzukommen.3. Adoleszenz: zwischen Anpassung undAuflehnungDie Kluft zwischen den Generationen ist heute nicht mehr sogross wie etwa noch vor ein bis zwei Generationen. Die Generationengrenzescheint sich zeitweilig ganz aufzuweichen, wenn beispielsweiseMutter und Tochter die gleiche Kleidung tragen odergemeinsam an Partys gehen. Lebensziele der Eltern wie «Beruf»,«Status», «Geldverdienen» werden oft stillschweigend anerkanntund übernommen. Die heutigen Adoleszenten arrangieren sichmit vielem und leben in spontanen Momenten der Gegenwart.Die heutige Adoleszentengeneration hat einen hohen BeziehungsundErlebnishunger. Die omnipräsente Gegenwart der elektronischenMedien schafft im Gegensatz zur Wirklichkeit neue, austauschbareund manipulierbare Gegen- bzw. vielmehr Ersatzwirk-
lichkeiten. Der Gebrauch der elektronischen Medien mit Chatsim Netz, Computergames etc. nimmt massiv zu. Das authentischeBedürfnis nach konkreter, sinnlicher Wirklichkeit wird dadurchaber nicht befriedigt. Was spürbar, konkret und dem Adoleszentenverfügbar bleibt, ist der eigene Körper. Er ist wirklich und deutlicherwahrnehmbar durch Schmerzen, welche durch eigenesHandanlegen hervorgerufen werden: Tätowierung, Piercing, riskantesSkateboarden. Die Risikobereitschaft ist dabei nicht gering.Es geht um das Ausloten von Grenzen – oft mit deutlich werdenderAngst vor dem Kontrollverlust über sich selbst. Der Körperwird Träger von Identität, was in seiner Zurschaustellung und demKörperkult an Rave-Partys und Street-Parades zum Ausdruck gebrachtwird und ein Gegengewicht zur körperlosen Welt der Medienbildet. Manche Erwachsene mögen sich da fragen, wo derWeg einer konsumorientierten Partygeneration hinführt, die ansolchen Anlässen in kollektiver Ekstase hinter dröhnenden Musiklastwagenherzieht. – Trotzdem greift der Vorwurf einer passivenund unpolitischen Jugend, die sich selbstgenügsam im Tanz umsich selbst zu bewegen scheint, zu kurz. Zwar werden keine grossenZukunftsentwürfe einer breiten Jugendbewegung präsentiert,aber der Wille, sich zu artikulieren, bleibt vorhanden und lässtsich nicht zum Verstummen bringen: So stellt beispielsweise diesoziokulturelle Nische des Rap mit seiner ausgefeilten Sprechkunsteine aktuelle, spezifisch adoleszente Ausdruckskunst darund ist ein fester Bestandteil der heutigen Jugendkultur.4. Entwicklungsstagnation und Entwicklungszusammenbruchin der AdoleszenzDie Aufgaben der Adoleszenz sind vielfältig: Trauer um den Verlustder Kindheit, Akzeptanz und Gebrauch des sexuell reifen Körpers,Integration verschiedener Selbstbilder, Übernahme von Verantwortungfür aggressive Akte, um einige zu nennen. Dieter Bürgin vergleichtden Adoleszenten mit einem Trapezkünstler, der seinenschwingenden Halt losgelassen hat und frei durch die Luft wirbeltohne schon die gegenüberliegenden Trapezteile gefasst zu haben.Während in der Latenzzeit, auch bei vorausgegangener fragilerEntwicklung, das psychische Gleichgewicht mit mehr oder wenigergrossen Mühen häufig noch gehalten werden konnte, versagenim Folgenden im Rahmen der Adoleszenz – oft beim Übergang inden Berufseinstieg – die vormals funktionierenden Anpassungsleistungen.Der Übergang in eine erwachsene persönliche Identitätgelingt nicht. Entwicklungsstillstand oder auch Entwicklungszusammenbruchsind die Folge, welche der Behandlung bedürfen.Psychische Störungen manifestieren sich wie:■ Depression■ Anorexie■ Bulimie■ Zwangsstörungen■ Angststörungen■ psychotische Zustände■ Suizidversuche■ Drogenkonsum■ DelinquenzStationäre Hospitalisationen können kürzere Kriseninterventionendarstellen oder unifokal sich um einen Konflikt zentrieren,nach dessen Bewältigung im Rahmen einer Kurztherapie eine progressiveEntwicklung erneut in Gang kommt, welche dann mittherapeutischer Begleitung ambulant weitergeführt werden kann.Häufig sind aber stationäre Hospitalisationen letzte Konsequenzeiner längeren, multikausalen Leidensgeschichte und letzterSchritt einer vorausgegangenen Behandlungskette, die nach Versagendes ambulanten Settings erfolgt. Bei diesen Adoleszenten istdann die Verzweiflung oft sehr gross. Sie stellen die Frage nachdem «Warum?» und «Warum gerade bei mir?» Es bestehen Ängste,nicht mehr zu gesunden und nicht mehr ein normales Leben wiedie anderen führen zu können.315. Therapeutische Beziehungsarbeit im Kontextgesellschaftlicher EntwicklungUnter Anerkennung der aktuellen Realität ist eine Behandlungszeitvon sechs Monaten für eine stationäre Behandlung bereits eine längereZeitdauer, in welcher Kostenträger – unabhängig vom Krankheitsbild– zu deren Finanzierung bereit sind. Jeder Monat ist eineim wahrsten Sinne des Wortes «kostbare» Zeit. Es stellt sich dieFrage, was in diesem Rahmen für Adoleszente, die in ihrer Entwikklungblockiert sind, entwicklungsfördernd sein kann – gesamtstationärund einzelpsychotherapeutisch. Hier beschränke ich michauf die einzeltherapeutische Arbeit. Der therapeutische Prozess zieltin Richtung vermehrter innerer Autonomie.In der Therapie ist die Innenwelt des Jugendlichen wichtig, seineinnere Verarbeitung der Dinge. Als Therapeutin bin ich im stationärenBehandlungssetting einerseits Vertreterin der Innenweltdes Patienten und andererseits für den Adoleszenten Vermittelnde
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