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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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Peter Fleischmann, Stationsleiter Föhrenberg, JugendpsychiatrieDie «Voll-easy-highspeed»-Psychotherapiefür Jugendliche und deren ElternEs ist ja schon nützlich, Fremdsprachen zubeherrschen. In meiner Gymizeit lernte ichgern und fleissig Englisch. Ich wollte ja dieTexte von Lennon, Jagger und Co. einigermassenverstehen, wenn ich sie denn am Lagerfeuer am romantischenSee mitsingen sollte. Dieses Sollen war ein freiwilliger Entscheidvon mir, weil ich schnell merkte, dass diese sozialeKompetenz meinen Marktwert beim weiblichen Geschlecht günstigbeeinflusste. Ach, die guten alten Zeiten . . .25 Jahre später, im Zeitalter von Globalisierung, worldwideweb,Rinderwahnsinn und Multikulturalität ist es kaum mehrmöglich Deutsch zu sprechen, ohne über Basiswissen der englischenSprache und Computer zu verfügen. Das ist halt so, jammernnützt nichts, man hat ja sowieso nieausgelernt. Ausser es geht einfach nicht mehr.Wenn das Ich kollabiert, der Ausbalancierungsprozesszwischen eigenen Wünschen,Bedürfnissen und Visionen einerseits undden hochkomplexen und widersprüchlichenHandlungserwartungen der Um- und Arbeitsweltandererseits nicht mehr gelingenmag, dann geht es einfach nicht mehr. Dannkommt Krise, Verzweiflung, Krankheit. Auchbei Kindern und Jugendlichen, immer häufiger,immer früher, immer bizarrer. Unsere «fit for fun»-normierteLebensweise ist lustig für die Sieger und die materiell Begünstigten,für die Verlierenden und Perspektivelosen bedeutet sie Einsamkeit,Schmerz und Ohnmacht.Diese bedenkliche Entwicklung unserer Zivilisation kannschon wütend machen und aggressiv, das merk ich ja selber beimir. Zum Glück! Aggredere heisst ja «auf etwas aktiv zugehen,etwas angehen» und genau das versuche ich mit meiner Arbeit inder Jugendpsychiatrie zu verwirklichen. Zum Glück leben wir(noch) in einer Gesellschaft, die es sich leistet, sich um ihre eigeneZukunft zu kümmern, und das sind ja schon immer die Jungengewesen. Zum Glück gibt es Stationen wie den Föhrenberg, womehrfach-problematische Jugendliche ihre Psychosen, Essstörungen,sozialen Ängste, Zwänge, Selbstverletzungen, Depressionen,Teilleistungsstörungen etc. behandeln können.Es ist immer wieder beeindruckend und ergreifend, wenn sichbei einem Eintritt auf unserer Station Jugendliche von ihrenEltern verabschieden und umgekehrt. High emotion in Reinformbei allen Beteiligten, und das ist gut so. Bewegte Gemüter, es tutsich was. Endlich!Bei den Eltern oftmals spürbar widersprüchliche Gefühle undGedanken: Ich habe versagt. Jetzt kommt alles ans Licht. Diereden jetzt meinem Kind ein, dass ich an allem schuld bin. Jetzt,wo das Kind weg ist, muss ich mich um all die noch schlimmerenProbleme kümmern. Hoffentlich geht das nicht zu lange, er/siemuss doch noch den Schulabschluss schaffen. Ich vermisse dichunbeschreiblich.Bei den Jugendlichen oftmals spürbar widersprüchliche Gefühleund Gedanken: endlich kein Stress mehr. Vielleicht verstehendie mich wenigstens. Scheibe, jetzt bin ich doch in der Psychigelandet. Hilfe, ich habe Angst. Ha! Denen habe ich jetzt aber«Unsere ‹fit for fun›-normierte Lebensweise ist lustigfür die Sieger und die materiell Begünstigten, fürdie Verlierenden und Perspektivelosen bedeutet sieEinsamkeit, Schmerz und Ohnmacht.»gezeigt, wer der Stärkere ist! Hoffentlich geht das nicht zu lange,ich muss doch noch den Schulabschluss schaffen. Ich vermissedich (immer seltener: euch) unbeschreiblich.Nun beginnt unsere Arbeit: Wir beobachten und beschreibenVerhaltensweisen und Symptome, wir erklären und deuten diese,wir therapieren, medizieren, strukturieren, dokumentieren undinteragieren, professionell reflektiert, mit allem Frust und allerLust, die diese Arbeit so mit sich bringt. Mit aller Unsicherheit,die es im Umgang mit Menschen immer auszuhalten gilt, mit allden eigenen Vorstellungen über Werte und Normen bezüglichGesundheit und Normalität, die sich nicht zwingend decken müssenmit denen der Eltern. Mit all den Übereinstimmungen undMeinungsverschiedenheiten in einem Team, die, wen wunderts,oft die Positionen der beiden Elternteile widerspiegeln. Mit all denunterschiedlichen beruflichen Sozialisationen im Hintergrund.Mit all den vordefinierten Rollen innerhalb des Behandlungsteams.Mit all den von den Eltern formulierten Gedanken undGefühlen, die nicht zwingend mit unseren übereinstimmen müs-33

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