Dr. med. Markus Binswanger, ChefarztModerne Identitätsprobleme – Einführungins Jahresthema4Die Bildung einer lebensgerechten Identitätstellt für jeden Menschen, der nach seinempersönlichen Lebenssinn sucht, eine zentraleentwicklungspsychologische Aufgabedar. Sie ist Grundlage seiner Selbstdefinition und seiner Beziehungenzum Umfeld. Die Aufrechterhaltung einer stabilen Identitätgeschieht in fortlaufender Auseinandersetzung mit derUmgebung. Jede Lebensphase innerhalb des Lebenszyklus stelltspezifische Anforderungen. Von besonderer Bedeutung ist dieAdoleszenz, welche durch eine tiefgreifende Neuorganisation derPersönlichkeit charakterisiert ist. Auch Übergänge in späterenLebensphasen stellen für das Individuum hinsichtlich Identitätsentwicklungneue Herausforderungen; Identitätskonflikte und-krisen charakterisieren diese lebensphasenbezogenen Momentedes Umbruchs und der Neuorientierung.Identitätsentwicklung im gesellschaftlichen KontextDer Prozess der Identitätsbildung wird von vielfältigen psychosozialenFaktoren beeinflusst. Er basiert einerseits auf derVerinnerlichung von Kindheitserfahrungen in der Ursprungsfamilie,andererseits auf der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichenStrukturen, Normen und Werten. Die so genannte soziale Identität– z.B. Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, Religion oder Nation– ist eine wichtige Basis für Identifikationsmuster und Voraussetzungfür seelische Stabilität und Weiterentwicklung.Individuelle Identität spiegelt unter diesem Aspekt immer auchsoziale Gegebenheiten und Prozesse sowie damit im Zusammenhangstehende Probleme und Konflikte.Unter dem Leitmotiv «Identität der Gesellschaft – Identität derSeele» widmet sich unser diesjähriges <strong>Jahresheft</strong> Fragen nachWechselwirkungen zwischen sozialen Prozessen und seelischerEntwicklung des Individuums. Ausgangspunkt ist zunächst dieFeststellung einer seit Jahren steigenden Inanspruchnahme ambulanterund stationärer psychiatrischer Leistungen. Diese Entwicklunglässt Politiker, Vertreter der Krankenkassen und Fachleutegleichermassen aufhorchen. Die breite Öffentlichkeit hatbisher nur am Rande davon Kenntnis genommen. Grosse Aufmerksamkeiterfährt neuerdings die bereits seit einigen Jahrenwachsende Zahl von IV-Renten-Bezügern mit psychischen Problemenresp. psychiatrischen Störungen. Einzelne politische Gruppierungenwollen diesen Umstand mit dem Sachverhalt erklären,dass die ambulante Versorgung durch eine ebenfalls rasch wachsendeZahl von psychotherapeutisch und psychiatrisch Tätigengeleistet wird, die nicht selten die Auseinandersetzung mit demHier und Jetzt scheuen, um den Status quo aufrecht zu erhalten,im Sinne von «Ich bin O. K., du bist O. K.». So betrachtet verursachenPsychiater und Psychologen die sich ausweitenden psychischenProbleme, mit denen sie konfrontiert sind, gleichsam selber.Diese nicht ungefährliche Rhetorik lässt Fragen nach möglichengesellschaftlichen Ursachen und Hintergründen unbeantwortet –soziale Dimensionen seelischen Leidens bleiben unbeleuchtet.Moderne KrankheitsbilderWichtiges Motiv für die Wahl unseres Jahresthemas ist die fortlaufendeKonfrontation mit sich wandelnden, neuen, bis anhinwenig bekannten psychiatrischen Problemstellungen. DieseStörungen, welche nicht selten dramatische Verlaufsformenzeigen, unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den bekanntenpsychiatrischen Erkrankungen wie beispielsweise Schizophrenieund Demenz. Was ist gemeint?Unter dem Gesichtspunkt sich verändernder psychiatrischerSymptombildungen und Verhaltensmerkmale ist in erster Liniedie zunehmende Zahl von Menschen zu erwähnen, welche sich– offen oder heimlich – selber verletzen oder gar verstümmeln.Manipulationen am eigenen Körper, wie sich schneiden oder sichbrennen, sind nicht selten verbunden mit allgemeinem Risikoverhaltensowie generellen Schwierigkeiten in der Impulskontrolle.Mager- und Brechsucht, der Gebrauch von stimulierendenpsychotropen Substanzen sowie pathologisches Spielen oder Stehlensind ebenfalls Charakteristika dieser neuen Störungsbilder.Die häufig als Borderline-Persönlichkeiten diagnostizierten, meistjugendlichen oder jungen erwachsenen Patienten, sind in ihremSelbst- und Umweltbezug massiv beeinträchtigt. Sie zeigen grosseUnsicherheit in ihrer sexuellen Orientierung, ihren Wertvorstellungensowie in ihren langfristigen Zielen. Im Zentrum steht inder Regel eine schwere Identitätsstörung – eine so genannte Identitätsdiffusion– welche von der Umgebung häufig in Form vonwidersprüchlichen Charakterzügen sowie rasch wechselndemBeziehungsverhalten wahrgenommen wird. Neben diesen persönlichkeitsgestörtenPatienten suchen neuerdings auch MenschenHilfe in unserer Klinik, welche vorerst seelisch gesund imponieren.In privaten und beruflichen Belastungs- und Veränderungssituationenwerden sie massiv überfordert und geraten vor diesemHintergrund in eine schwere, oft akute Krise. Bei näherer Betrach-
tung zeigen sich häufig komplexe Ausformungen einer Identitätskrise.Äussere Ereignisse führen bei diesen sich meistens in derLebensmitte oder zweiten Lebenshälfte befindenden Patienten zuHaltverlust, Orientierungslosigkeit und insbesondere zu Sinnkrisen.Bis anhin tragende Lebenskonzepte werden zunehmendbrüchig und versagen schliesslich. Gefühle der inneren Zerrissenheitund Sinnentleerung machen sich breit, Depression undSuizidalität prägen das klinische Bild.Aufhorchen lässt nun die Tatsache, dassdie beschriebenen Patientenkategorien in denvergangenen Jahren – also in einer Phasewachsender wirtschaftlicher Probleme undrasanten gesellschaftlichen Umbruchs – inden meisten psychiatrischen Institutionenerheblich zugenommen haben. Als psychotherapeutischspezialisierte Fachklinik werdenuns Patienten mit solchen Formen vonIdentitätsstörungen überdurchschnittlich häufig zugewiesen.Darum ist es für uns bedeutsam – auch im Hinblick auf zukünftige,weiter sich akzentuierende Identitätsprobleme – dieser Thematikbesondere Aufmerksamkeit zu widmen.Mögliche soziale UrsachenAbschliessend soll nun die Frage aufgeworfen werden, welcheaktuellen gesellschaftlichen Prozesse die Bildung und Aufrechterhaltungeiner kohärenten Identität erschweren. Lassen sich nebenindividuellen biographischen Faktoren allgemeine gesellschaftlicheGegebenheiten identifizieren, welche in der Entstehung derbeschriebenen neuen Störungsbilder ursächlich eine Rolle spielen?Spiegelt die wachsende Zahl von Menschen in Identitäts- undLebenskrisen Aspekte der Identitätsproblematik unserer Gesellschaftals Ganzes? Müssen wir gar «am Ende der grossen Erzählungen»Abschied nehmen von der Vorstellung des Individuumsals einmalige, unverwechselbare Persönlichkeit im Sinne eineroriginären Identität?Die moderne Soziologie hat vielfältige Deutungsmuster zurZeitdiagnose entwickelt, welche von Psychiatrie und Psychotherapiebis anhin wenig rezipiert worden sind. Als hilfreich erweistsich in diesem Zusammenhang das Konzept der Postmoderne, wiees unter anderem vom Familiensoziologen Kurt Lüscher vertretenwird. Er vertritt die Ansicht, dass der Modernisierung von Anfangan komplexe Paradoxien zu Grunde liegen. Diese vermeintlichenund tatsächlichen Widersprüche sollen sich in der Gegenwart – inder Postmoderne – sowohl unter quantitativen als auch unterqualitativen Gesichtspunkten radikalisiert haben. Lüscher vertrittdie These, dass es für das Individuum im Kern darum geht,...«mitAmbivalenzen im Bereich des psychischen Erlebens, [...] der sozialenBeziehungen und Strukturen besser umgehen zu lernen.» AlsErschwernisse in der Identitätsbildung werden postmodernesoziale Bedingungen wie Vielfalt der Lebensformen und -stile,«Jede Lebensphase innerhalb des Lebenszyklusstellt spezifische Anforderungen. Von besondererBedeutung ist die Adoleszenz, welche durch einetiefgreifende Neuorganisation der Persönlichkeitcharakterisiert ist.»Wertepluralismus, Unsicherheit durch verminderte Verlässlichkeitder Verhältnisse sowie reale Konfrontation mit anderen, häufigauch durch Verunsicherung geprägte Identitätsentwürfe derMitmenschen aufgeführt. Auch die mediale Überflutung mitinstrumentalisierenden Identitätsangeboten, namentlich in derWerbung sowie die Infragestellung kollektiver Identitätsangebote(Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit) werden aufgeführt.Auch familiale Veränderungsprozesse wie Fragilität vonPartnerbeziehungen, gesteigerte Ansprüche in den Beziehungenzwischen Kindern und Eltern und schliesslich Veränderungenin der Arbeitswelt sollen für postmoderne Identitätsproblememitverantwortlich sein.Psychiatrie und Psychotherapie befassen sich seit jehermit Problemen und Aufgaben für eine individuell abgestimmteIdentitätsentwicklung. Die dabei ablaufenden Prozesse sindeingebettet in die jeweiligen Spannungsfelder sozialer Veränderungenund damit verbundener Widersprüche. Soziale Dimensionenpsychischer Gesundheit und Krankheit werden zur Zeitnur wenig ausgeleuchtet und finden entsprechend geringe Berücksichtigungin der Behandlungspraxis. Nachfolgende Beiträgeaus unseren verschiedenen Klinikbereichen versuchen, moderneIdentitätsprobleme aus unterschiedlicher Perspektive zu orten,einen Brückenschlag zu den aktuellen sozialen Veränderungsprozessenherzustellen und behandlungsrelevante Konsequenzenaufzuzeigen.5
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