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Jahresheft 2003 - Murg Stiftung

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tung zeigen sich häufig komplexe Ausformungen einer Identitätskrise.Äussere Ereignisse führen bei diesen sich meistens in derLebensmitte oder zweiten Lebenshälfte befindenden Patienten zuHaltverlust, Orientierungslosigkeit und insbesondere zu Sinnkrisen.Bis anhin tragende Lebenskonzepte werden zunehmendbrüchig und versagen schliesslich. Gefühle der inneren Zerrissenheitund Sinnentleerung machen sich breit, Depression undSuizidalität prägen das klinische Bild.Aufhorchen lässt nun die Tatsache, dassdie beschriebenen Patientenkategorien in denvergangenen Jahren – also in einer Phasewachsender wirtschaftlicher Probleme undrasanten gesellschaftlichen Umbruchs – inden meisten psychiatrischen Institutionenerheblich zugenommen haben. Als psychotherapeutischspezialisierte Fachklinik werdenuns Patienten mit solchen Formen vonIdentitätsstörungen überdurchschnittlich häufig zugewiesen.Darum ist es für uns bedeutsam – auch im Hinblick auf zukünftige,weiter sich akzentuierende Identitätsprobleme – dieser Thematikbesondere Aufmerksamkeit zu widmen.Mögliche soziale UrsachenAbschliessend soll nun die Frage aufgeworfen werden, welcheaktuellen gesellschaftlichen Prozesse die Bildung und Aufrechterhaltungeiner kohärenten Identität erschweren. Lassen sich nebenindividuellen biographischen Faktoren allgemeine gesellschaftlicheGegebenheiten identifizieren, welche in der Entstehung derbeschriebenen neuen Störungsbilder ursächlich eine Rolle spielen?Spiegelt die wachsende Zahl von Menschen in Identitäts- undLebenskrisen Aspekte der Identitätsproblematik unserer Gesellschaftals Ganzes? Müssen wir gar «am Ende der grossen Erzählungen»Abschied nehmen von der Vorstellung des Individuumsals einmalige, unverwechselbare Persönlichkeit im Sinne eineroriginären Identität?Die moderne Soziologie hat vielfältige Deutungsmuster zurZeitdiagnose entwickelt, welche von Psychiatrie und Psychotherapiebis anhin wenig rezipiert worden sind. Als hilfreich erweistsich in diesem Zusammenhang das Konzept der Postmoderne, wiees unter anderem vom Familiensoziologen Kurt Lüscher vertretenwird. Er vertritt die Ansicht, dass der Modernisierung von Anfangan komplexe Paradoxien zu Grunde liegen. Diese vermeintlichenund tatsächlichen Widersprüche sollen sich in der Gegenwart – inder Postmoderne – sowohl unter quantitativen als auch unterqualitativen Gesichtspunkten radikalisiert haben. Lüscher vertrittdie These, dass es für das Individuum im Kern darum geht,...«mitAmbivalenzen im Bereich des psychischen Erlebens, [...] der sozialenBeziehungen und Strukturen besser umgehen zu lernen.» AlsErschwernisse in der Identitätsbildung werden postmodernesoziale Bedingungen wie Vielfalt der Lebensformen und -stile,«Jede Lebensphase innerhalb des Lebenszyklusstellt spezifische Anforderungen. Von besondererBedeutung ist die Adoleszenz, welche durch einetiefgreifende Neuorganisation der Persönlichkeitcharakterisiert ist.»Wertepluralismus, Unsicherheit durch verminderte Verlässlichkeitder Verhältnisse sowie reale Konfrontation mit anderen, häufigauch durch Verunsicherung geprägte Identitätsentwürfe derMitmenschen aufgeführt. Auch die mediale Überflutung mitinstrumentalisierenden Identitätsangeboten, namentlich in derWerbung sowie die Infragestellung kollektiver Identitätsangebote(Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit) werden aufgeführt.Auch familiale Veränderungsprozesse wie Fragilität vonPartnerbeziehungen, gesteigerte Ansprüche in den Beziehungenzwischen Kindern und Eltern und schliesslich Veränderungenin der Arbeitswelt sollen für postmoderne Identitätsproblememitverantwortlich sein.Psychiatrie und Psychotherapie befassen sich seit jehermit Problemen und Aufgaben für eine individuell abgestimmteIdentitätsentwicklung. Die dabei ablaufenden Prozesse sindeingebettet in die jeweiligen Spannungsfelder sozialer Veränderungenund damit verbundener Widersprüche. Soziale Dimensionenpsychischer Gesundheit und Krankheit werden zur Zeitnur wenig ausgeleuchtet und finden entsprechend geringe Berücksichtigungin der Behandlungspraxis. Nachfolgende Beiträgeaus unseren verschiedenen Klinikbereichen versuchen, moderneIdentitätsprobleme aus unterschiedlicher Perspektive zu orten,einen Brückenschlag zu den aktuellen sozialen Veränderungsprozessenherzustellen und behandlungsrelevante Konsequenzenaufzuzeigen.5

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