BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS TOPOLOGIE DES SEINSDas Neue ist die Überwindung der geschaffenen Distanz zwischen dem betrachteten Objekt unddem betrachtenden Subjekt. Die wiedergewonnene Einheit ist eine vom Subjekt produzierte. DerMönch markiert, das produktive Zentrum dieser düsteren Welt. Er ist Platzhalter des Subjekts, derdie Welt von ihrem Zentrum aus offen hält. Die Kunst wird Mittelpunkt und Umfang der Welt. Undalles, was die Kunst her-vor-bringt, ist Schein. Wie der Mönch die Dunkelzone nicht durchschneidet,gibt es aus der Welt als Erscheinung kein auftauchen. Kunst ist Her-vor-bringung, Produktion.Jeder Mensch produziert seine Wirklichkeit.Friedrich konstruierte einen Großteil seiner Bilder nach dem goldenen Schnitt, so auch im Möncham Meer. Die Divina Proportione galt als göttliches Maß und stand <strong>für</strong> das Unendliche und Unermessliche.Sie kommt in dem historischen Moment zu Ehren, in dem Gott zur unbeweisbarenSpekulation wird und lediglich als regulative Idee noch Berechtigung besitzt. Als regulative Ideewird das Göttliche zur innerweltlichen Maßgabe durch ein letztlich Unermessliches. Der goldeneSchnitt ist die Proportion gewordene ästhetische Idee der regulativen Vernunftidee Kants. In FriedrichsLandschaften scheint das Heile und Heilige als das Unfassbare und Undarstellbare, alsbloße innerweltliche Möglichkeit und unendliche Hoffnung auf. Die Landschaft wird zum Erfahrungsraum<strong>für</strong> die Abwesenheit des Heilen und Heiligen (vgl. Nunold 2006).4. Das linguistische GrundverhältnisWas kann erkannt, gewusst, was darf erhofft werden, wenn sich die regulative Idee als Krücke der(ver)zweifelnden Vernunft erweist, an der sie durch die sich auflösenden Weltzusammenhänge stolpert.Wenn es ihr ergeht wie Kafkas Landvermesser K., der unfähig ist das Schloss zu finden, vonwo die Weisungen zu kommen scheinen. Gibt es kein Zentrum, von dem aus sich die Welt organisiert,bleiben die Weisungen unverständlich und verlieren ihre Allgemeingültigkeit. Das Schloss istgewissermaßen ein nach außen projiziertes Bild der Kantischen transzendentalen Apperzeption,die all unser Denken begleiten können muss. Wie sich Da-sein als in der Welt-sein konstituiert,so lösen sich diese beiden Pole wechselseitig in unzusammenhängende, sinnlose Versatzstückeauf, verschwindet die organisierende Instanz. Die Verhältnisse werden bestenfalls im doppeltenSinne ver-rückt, schlimmstenfalls zerfallen sie wie in einer Psychose. Ein solches Land lässt sichnicht vermessen. Die Topologie einer solchen Landschaft ist absurd und unverständlich. Es gibtkeinen Logos, keine Verhältnishaftigkeit, die erkannt, an der sich orientiert, die verstanden werdenkann. K. ist nicht mehr im Bilde. Er kennt sich nicht mehr aus. Er ist konfus, verwirrt angesichtsder Unverständlichkeit der Welt. Wie K. das Schloss sucht, will Freud, da wo Es ist, das Ich alsorganisierende Instanz inthronisieren. Er entwirft eine Topologie des psychischen Seins, nach derer die aus den Fugen geratene psychische Landschaft seiner Patienten reorganisieren will.In Deutschland entwickelte sich die Landschaftsmalerei aus dem Impressionismus und Symbolismus.Landschaft ist Symbol <strong>für</strong> das In-der-Welt-sein. Aber Aussagen, die über die Welt getroffenwerden, verlieren ihre Verbindlichkeit. Sie degenerieren zu Spielzügen innerhalb von Sprachspielen,deren Regeln nur <strong>für</strong> dieses Spiel gelten und die nur die Mitspieler kennen. K spielt nirgendsmit. Der logische Positivismus wie die Kunstsprachenprojekte waren vermessene kafkaeske Versuche,eine Art Metaspiel ohne Metaphysik zu konzipieren. Durch Protokollsätze oder rigide Spra-IMAGE I Ausgabe 4 I 7/2006 10
BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS TOPOLOGIE DES SEINSchregeln sollen die Dinge dingfest gemacht werden als das nackte ontos on, als das, was es gibt.Wie Messen voraussetzt, dass es Messbares gibt, wird vorausgesetzt, dass es überhaupt etwasgibt, das in Protokollsätzen erfasst werden kann. Der logische Positivismus erwies sich als metaphysischesProjekt.Max Plank sagte einmal: »Wirklich ist, was sich messen lässt.« Wenn sich die Wirklichkeit nichtmehr messen und vermessen lässt, worauf bezieht sich dann Wahrheit? Wahrheit muss definiertwerden, etwa in Tarskis semantischer Wahrheitsdefinition, <strong>für</strong> eine Objektsprache in einer Metasprache.Die Objektsprache muss anders als die so genannte Normalsprache geschlossen sein,also nicht selbstreferentiell, um Antinomien und Paradoxien zu vermeiden (Lügnerparadoxon).Wahrheit wird zum Wahrheitswert innerhalb der formalen Logik und bezieht sich auf Sätze einerformalen Sprache. Sie verliert ihre Selbstverständlichkeit.Wittgenstein spricht von einer »Verhexung unseres Verstandes durch das Mittel der Sprache«(PU: § 109). Sprachphilosophie wird zur Therapie, die ihn vom Zwang befreien soll, logische undmathematische Strukturen als die Grundlage der Sprache aufzufassen, mit der sich die Wirklichkeit,die Landschaft unseres Seins, vermessen lässt. Er kommt wie Heidegger, Benjamin undMerleau-Ponty zu dem Schluss, dass es die Sprache ist, die spricht (PU 120; Heidegger 1959: 13;Benjamin 1992; Merleau-Ponty 1986: 315). Was sich in der Sprache mitteilt ist nichts Sprachliches.Es ist das Unsagbare und das »zeigt sich« wie Wittgenstein im Tractatus konstatiert. Da wirMenschen in der Sprache leben und immer schon sprechen, spricht alles in je seiner Sprache zuuns, nimmt uns in Anspruch. Wir aber vermögen es nicht zu übersetzen. Franz Marc notiert imSchlachtenlärm des 1. Weltkrieges: »[A]lles [ist] noch von einer grauenvollen Stummheit, chiffriert,– oder meine Ohren sind taub, übertäubt vom Lärm, die wahre Sprache dieser Dinge heute schonherauszuhören.« (Marc 1966: 9) Das, was in der Sprache der Dinge sich ausspricht, ist nach Benjaminetwas Geistiges (Benjamin 1992), und das soll sich zeigen und zwar in der Kunst, so Kleeoder Kandinsky (vgl. Kandinsky 1912).Ist alles Geschehen und Sosein zufällig und zerfällt die Welt in Tatsachen, wie Wittgenstein imTractatus schreibt, sind alle Sätze gleichwertig und nichts hat Sinn und Wert. Beides gibt es nichtin der Welt. Es muss außerhalb liegen. Aber wo, wenn es das Jenseits nicht gibt? Also wird gegründeltin den Tiefen des Unbewussten, hinter und unter den Dingen, nach immateriellen kosmischenKräften. Es wird in der Kunst der so genannten Primitiven, der Volkskunst und der KunstGeisteskranker nach der verlorenen Ursprünglichkeit gesucht, um eine neue Allgemeingültigkeitzu gewinnen. Der Nationalsozialismus, der diese Kunst als entartet stigmatisierte, bediente dasselbeBedürfnis mit seiner Rassen- Blut- und Bodenideologie. Gesucht wird der Wesensgrund,was auch immer das sein mag.Mondrian sucht eine universale Harmonie, die den Phänomenen zu Grunde liegt, etwa der Rhythmusder an den Pier brandenden Wellen (Abb. 5). Er abstrahiert von allem Besonderen, den Vorbildernder Natur, von allem, was durch Gefühle verundeutlicht werden könnte.Kandinsky will durch die Subjektivität des Künstlers den Hintersinn der Dinge, die außerhalb derSubjektivität liegen, zum Vorschein bringen. Der innere Blick soll erwachen und sich entwickelndurch »das Erleben der großen und kleinen Zusammenhänge, die mikro- und makroskopischerIMAGE I Ausgabe 4 I 7/2006 11
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