BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS TOPOLOGIE DES SEINSendliche Wesen, Sterbliche mit einem endlichen, begrenzten Erkenntnisvermögen. Vernunft undkritische Distanz beweist sich da, wo das Denken, Fühlen und Handeln dieser Rechnung trägt.Denken, Fühlen und Handeln ermöglichen Orientierung und sollten stets revidierbar bleiben.Den sinnstiftenden Zusammenhalt aufzuzeigen, der etwa bis zu Descartes der Religion oblag, gehtauf die Kunst über. Nicht mehr Gott, die Kunst wird zum Mittelpunkt und Umfang der Welt, wiebei Friedrich. Für Kant übernimmt die Ästhetik die Funktion, welche ehemals der Religion und derMetaphysik oblag. Religiöse Gefühle werden als ästhetische interpretiert und behandelt. Lyotardgreift den Begriff des Erhabenen bei Kant auf. Er insistiert darauf, dass das Erhabene einen Restoder eine Spur des ganz Anderen bewahrt. Das Erhabene fand schon Kant in der Großartigkeit derNatur. Natur aber, die durch die ästhetische Reflexion gegangen ist, wird zur Landschaft.Und heute? Die Aufgabe ist dieselbe geblieben: das Zeigen oder Verweisen auf oder in das Unsichtbareim Sichtbaren, das Sichtbarmachen, dass es das Unsichtbare gibt oder der Be<strong>für</strong>chtungAusdruck verleihen, dass es das Unsichtbare eben nicht gibt. Beides ist, wie Guardini feststellte,eine Frage des Wie, nicht des Was der Darstellung. Doch das Grundverhältnis zum Sein scheintsich zu verändern, von einem linguistischen zu einem ikonischen. Aus dem linguistic turn wird einiconic turn. In der medialen Bilderflut, die uns die VR 2. Ordnung als VR 1. Ordnung, als Wirklichkeitvorgaukelt (und wirkmächtig sind diese Bilder), sind es die Bilder der Kunst, die auf dasUnsichtbare, Bildlose verweisen. Anstelle der Konfusion tritt die Ahnung, dass weniger hinter denDingen als in den Dingen, nicht hinter, sondern in der Welt, nicht hinter den Bildern, sondern in denBildern jenes Unsichtbare zu finden ist.Ahnung ist wie Konfusion eine Grundstimmung. Sie ist ein dunkles Wissen und ein Aushalten,Sich-Bereit-und-Offenhalten <strong>für</strong> eine noch unbekannte Regelhaftigkeit (vgl. Heidegger 1994: § 6;vgl. Otto 1932: 332f.). Hogrebe spricht von »Vorsprünglichkeit« und einer »eigenartig kündendenTönung« (Hogrebe 1996: 7). Ahnung ist der Gegenpol zur Konfusion, die gerade in der Erfahrungdes Verlustes und des Nicht-finden-könnens einer Regelhaftigkeit besteht (vgl. Nunold 2004: 117)Die Ahnung kann ebenso gut Be<strong>für</strong>chtung sein, dass dieses Unsichtbare nichts Heiles und Heiliges,sondern etwas Schreckliches ist.6. Gerhard RichterChinon (1987) von Gerhard Richter (Abb. 8) zeigt eine Flachlandschaft. Der Horizont ist durchvon links und rechts ins Bild ragende Baumreihen verstellt. Das Bild ist unscharf wie die meistenseiner Bilder. Die Dinge lassen sich nicht fixieren, nicht dingfest machen. Das graue Neutrum desHimmels verweigert jede Aussage. Es ist die Unanschaulichkeit par Exellence, der Ausdruck einesNichts, eines Nichts an Bildlichkeit. Das Bild ist eine Weigerung, den Betrachtenden zu zeigen,was in dieser Landschaft eigentlich zu sehen sein müsste: die Silhouette des ersten KernkraftwerksFrankreichs.Sehen wir wirklich mehr, sähen wir ein Abbild des Kraftwerks (Abb. 9)? Erkennen lassen sich nochTeile der Baumreihen. Das Bild beruhigt in seiner Klarheit, der Luft, des Sees, des Himmels, derIMAGE I Ausgabe 4 I 7/2006 14
BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS TOPOLOGIE DES SEINSAbb. 8: Gerhart Richter: Chinon,1997, Öl auf Leinwand, 200×320,Centre Pompidou, ParisDarstellung. Es suggeriert Reinheit. Friedlich fügt sich der Meiler in die Landschaft. Das Silberder Kuppel widerspiegelt die Farbe des Himmels und des Wassers. Der Kühlturm reckt sich genHimmel und lotet in der Tiefe des Sees, als verbinde er Erde und Himmel wie eine von Menschengesetzte Koordinate des Weltgevierts, vergleichbar eines Kirchturms. Das Bild gewinnt etwasSakrales, indem wie bei Friedrich auf das Mittel des goldenen Schnitts zurückgegriffen wird als diezur Bildstruktur gewordene Maßgabe des Göttlichen oder Unermesslichen. Während in FriedrichLandschaften das Heile und Heilige als das Unfassbare und letztlich Undarstellbare, als bloßeinnerweltliche Möglichkeit und unendliche Hoffnung aufscheint, wird das Unermessliche hier alsdas Handhabbare, Fassbare, Heilbringende ins Bild gesetzt. Das Bild wird zur Ikone <strong>für</strong> die unerschöpflicheEnergie, über die verfügt werden kann zum Wohle der Menschheit. Sie ist sauber – Luft,Wasser, Himmel sind klar und rein – und sie ist absolut friedlich, wie die ruhige Landschaft. Ich binversucht von Idolatrie zu sprechen, vergleichbar dem Tanz ums goldene Kalb.Richters Chinon-Bild ist nach dem goldenen Schnitt aufgebaut und steht wie das Foto in der Traditionerhabener Landschaftsdarstellungen. Welches Bild lügt? Das von Richter, das nach einemFoto gemalt wurde, oder das Foto des Kraftwerkes? Richter spricht von der »Verlogenheit« (Richter1986: 115) seiner Landschaften. Verlogen ist <strong>für</strong> ihn die Verklärung der Natur, die »weder Sinn,Abb. 9: Kernkraftwerk Chinon, Frankreich:www.home.schule.at/just4fun/hovelspot/frankreich.htmIMAGE I Ausgabe 4 I 7/2006 15
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