BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS TOPOLOGIE DES SEINSAbb. 5: Piet Mondrian, Komposition 10 inSchwarz und Weiß, Pier and Ocean, 1915,Öl auf Leinwand, Kröller Müller Museum,Otterlo, NiederlandeArt sind« (Kandinsky 1955: 182). Nach ihm besitzen nur die feinen Geister da<strong>für</strong> ein Gespür. AllesGegenständliche gilt ihm als Verunreinigung der kosmischen Klänge, Farben und Töne. Formenund Farben trennen sich von den Gegenständen und organisieren sich nach ihren eigenen Gesetzen,wie in Improvisation Klamm (Abb. 6).Für Paul Klee liegt die Welt in Scherben. Auf seinen Bildern versammelt er Bruchstücke der materiellenWelt. Die Fragmente verweisen auf einen längst verlorenen Sinn. Er vermutet ihn in einerformlosen, immateriellen Farbwelt, etwa in einem seiner späten Bilder Insula dulcamara, süß-bittereInsel (Abb. 7). Diese formlose, immaterielle Farbwelt scheint fast heiter durch die zu leerenUmrissfragmenten zerbrochene materielle Welt. Sie spendet keinen Trost. In der Unbestimmtheitvermag der vermutete Wesensgrund die materielle Welt nicht zu heilen, keinen Sinn zu stiften. Siestimmt zugleich süß und bitter. Vielleicht ist sie tödlich, wie der bitter-süße Nachtschatten Solanumdulcamara. Es mag dem Subjekt obliegen, sich aus den Bruchstücken dieser Welt einen SinnAbb. 6: Wassily Kandinsky: ImprovisationKlamm, 1914, Öl auf Leinwand, 110×110,Lenbachhaus MünchenIMAGE I Ausgabe 4 I 7/2006 12
BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS TOPOLOGIE DES SEINSAbb. 7: Paul Klee: Insula dulcamara, 1938, Öl auf Papier auf Jute, 80×175, Klee Foundation, Bernzu erfinden. Der lichte Hintergrund gibt ihn weder Preis noch verweist er auf etwas Verborgenes,Transzendentes. Er ist nicht nur opak, wie der Goldgrund mittelalterlicher Bilder. Sie verheißenTranszendenz ohne Transparenz. Der lichte Hintergrund ist eher ein verklärtes Nichts, eine Transparenzohne Transzendenz, – süß und bitter wie leer laufende, hinkend beschwingte Walzertakte.Es ist nicht so sehr ein Tanz auf dem Vulkan, was durchaus zeitgemäß wäre, als ein Tanz über demnoch verhangenen Abgrund.Das Weltgeviert ist zerbrochen. Der Entwurf der Sterblichen läuft leer. Der Himmel, der eine allgemeinverbindlicheRegelhaftigkeit verhieß, ist tot. Noch verklärt freundlicher Nebel die Leere, wieein süßes Nichts. Es ist Bitter, sich dem Nichts an Sinn, der metaphysischen Leere, zu stellen. Werwie Büchners Lenz es wagt »auf dem Kopf zu gehen, um in den Abgrund des Himmels zu blicken«,läuft Gefahr, angesichts der erschreckenden Leere wahnsinnig zu werden. Kein noch so herbeigesehnterWesensgrund kann die verlorene Transzendenz ersetzen. Die Welt wird fremd, absurdund unvermessbar. Heidegger spricht von »Heimatlosigkeit«. Günther Anders von »Mensch ohneWelt«. Das Bezugs- und Bedeutungsgefüge zerbricht und wird verrückt, die Weisungen werdenunklar und die Menschen sind darin – wie K. – stets die Ab- und Verwiesenen.Wittgenstein schreibt zum Ende des Tractatus: »Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. Inder Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – undwenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss eraußerhalb alles Geschehens und Soseins liegen. Denn alles Geschehen und Sosein ist zufällig.«(Wittgenstein 1963: 6.41) Aber außerhalb der Welt gibt es nichts und in der Welt ist alles dada.5. Ahnung und Be<strong>für</strong>chtungDie leibhaftig erlebte Leere an Sinn und der damit verbundene Zerfall der Welt stärkt das Verlangennach Sinnstiftung und Orientierung. Sekten und Totalerklärung versprechende politische undweltanschauliche Gruppierungen profitieren von dieser Sehnsucht. Totalerklärungsmuster sindKennzeichen jeden echten Wahns. Nichts ist so konsistent wie ein solides Wahnsystem. Wir sindIMAGE I Ausgabe 4 I 7/2006 13
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