BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS TOPOLOGIE DES SEINSAbb. 21: Anselm Kiefer, Böhmen liegt am Meer, 1995, Öl, Emulsion, Schellack auf Rupfen, 191,1×561,3,Sammlung Friedrich Burda, Baden - Badennach böhmischen Felsstudien, die der Malers Roelant Savery zwischen 1604 und 1612 anfertigte,das Bild Wildziegenjagd an der Küste.Wie im Gedicht, will Kiefer in seinen Bildern ›zugrunde gehen‹, der Seinsgeschichte auf den Grundgehen. Er gräbt in den Tiefen, wie Heidegger in den alten Grund- und Leitworten, die er nachdem vergessenen Verhältnis zum Sein befragt. Diese Worte sind nicht bloß Topoi im sprachlichenSinne, sondern logische Orte. In Böhmen liegt am Meer geht Kiefer dem logischen Ort auf denGrund, der Heimat als U-topos, der als Hoffnungsort das Sehnen der Menschen immer schonauf sich versammelt haben wird. Am hohen fernen Horizont steht nur die Verheißung in krakeligerSchrift geschrieben.Kiefer spricht nicht von Seinsvergessenheit, wie Heidegger, sondern von Mythos. Aber ist Heimatein Mythos? Es geht nicht um einen konkreten mythischen Ort, um das goldene Zeitalter, dasgelobte Land, das verlorene oder wiederzugewinnende Paradies oder die deutsche Scholle oderwas auch immer. Es geht um das, was unser Sehnen versammelt, dass sich uns stets entzieht undvergessen wird in der Fremde, in der wir fast die Sprache, die Worte verloren haben, wie Heideggermit Hölderlin schreibt (Heidegger 1997: 130). Arbeit am Mythos ist Arbeit gegen das Vergessen,ein Weisen in das sich Entziehende. Für Heidegger ist Mythos ein »rufende[s] zum ScheinenBringen« (Heidegger 1997: 248). Genau das tut Kiefer. Im Sichtbaren der Landschaft kündet sichdas Unsichtbare, Sichentziehende an, wie in den alten Grund- und Leitworten.Bachmann spricht in ihrem Gedicht von einem ›Wort‹, an welches das ›Ich‹ grenzt ebenso wie anein ›anderes Land‹. Beides sind Topoi, wenn auch U-Topoi. Das Ich, das grenzt, hat an beiden Teilam Wort und am Land. Das Ich ist die Grenze, der Übergang, die Schwelle zwischen dem, wassich entzieht, dem Wort und dem Land. »Schwelle meint keine starre Barriere, sondern Übergang,der nie in das eine oder andere vollständig übergeht, aber an beiden teilhat. Darin besteht ihreVirtualität« schreibt Benjamin (Benjamin 1981: I, 618).Das Ich ist diese virtuelle Schwelle. Das Ich ist kein Ding, kein res cogitans. Es ist ein Geschehen,das lebende dynamisch Verhältnishafte. Es ist dem Bild in dieser Verhältnishaftigkeit verwandt unddarin, dass es als Repräsentiertes so kontrafaktisch ist wie die Repräsentation eines Gegenstandesin einem Bild. ›Ceci n'pas une pipe‹ heißt es bei Magritte. Das Ich hält im Zeigen und WeisenIMAGE I Ausgabe 4 I 7/2006 24
BEATRICE NUNOLD: LANDSCHAFT ALS TOPOLOGIE DES SEINSden Übergang offen. Es kann sich selbst und die Dinge nur zeigen, in dem es über sie hinausweist in das, was sich stets entzieht, um auf sich selbst, die Dinge, die Welt zurück zu kommen.Die virtuelle Schwelle des Ichs ist die eigentümliche Landschaft des Da des Da-seins mit seinereigentümlichen Topologie. In diesem Sinne sind wir, wie Heidegger schreibt: »[…], indem wir in dasSichentziehende zeigen« (Heidegger 1997: 129), in das Nichturpräsentierbare.»Der Denker sagt das Sein. Der Dichter nennt das Heilige.« (Heidegger 1949: 46) Der Künstleroder die Künstlerin bilden es. Der Name ist die Abbreviatur des Bildes (vgl. Jonas 1995: 122). Dasmeint nicht, es werde benannt, gar bei seinem Namen genannt und abgebildet. Dichtung undbildende Kunst siedeln auf der virtuellen Schwelle. Sie rufen her-vor, in das Wort oder Bild. Siesind ›das Rufende-zum-Scheinen-Bringen« und in diesem Sinne Mythos und Arbeit am Mythos,nicht aber Mythen bildend. Sie machen offenbar, dass das Sein, das Heilige nie her-gestellt undnie her-vor-gebracht werden kann, aber allem Seienden seinen Ort gewährt im Guten, wie im Bösen.In diesem Sinne sind Künstlerinnen und Künstler TopologInnen des Seins. Kunst ist Arbeitgegen das Vergessen dessen, aus dem sich <strong>für</strong> uns unser Verhältnis zum Sein und der Aufenthaltin dieser Welt bestimmt. »Die wahre Sünde« schreibt Eliade, »ist das Vergessen« (Eliade 1985: 90;vgl. Nunold 2003: 167 ff., 352-371).Böhmen liegt am Meer ist ein Synonym <strong>für</strong> die Sehnsuchtslandschaft. Sie ist die ewige Landschaft,die alle Landschaften der Ewigkeit in sich versammelt. Sie ist pure Potentialität und ewigeGegenwart. Sie ist der Ur-sprungsort jeder Ontologie, jedes Seinsverhältnisses und Seinsverständnisses.Sie ist nicht Ressource. Ressourcen sind endlich und ausbeutbar. Sie ist das unendlichVerhältnishafte, Unermessliche und Maßgebende. Sie ist das bildlose Ur-, oder Vor-bild <strong>für</strong>alle Seinsverhältnisse und Bilder unsere Sehnsucht, unserer Angst, unseres Strebens nach Glück,Freiheit und Frieden. In Kiefers Landschaft ist der Horizont hoch und weit entfernt. Kein Meerbrandet an die Küste. Die seligen Gestade Böhmens sind das unendlich Verheißungsvolle, der»Grund« von dem Bachmann spricht. Sie ruft alle Unverankerten, damit sie in ihn eingehen und»unverloren sind«.Der Mythos kennt nur die zyklische Zeit der ewigen Wiederkehr des Gleichen, aus dem es keinEntrinnen und nur tragische Helden und Heldinnen gibt. Kiefer verbindet die mythische Zeit mitder linearen Zeit durch die Palimpseststruktur und der gleichzeitigen Ausrichtung auf den fernenHorizont. Ein Feldweg führt durch das triste, zerfurchte Landschaft. Blumen der Hoffnung wurzelnin den abgründigen Tiefen des Ursprungs. In der jüdisch-christlichen Tradition verbindet sich dielineare Zeit mit der Heilsgeschichte, in der die Handelnden zu Subjekten der Geschichte werden.Kiefer antizipiert allerdings nicht das Ende der Geschichte, nicht das Reich Gottes oder ein profanesz. B. marxistisches Arbeiter- und Bauernparadies, kein befreites Lummerland oder was auchimmer. Er besitzt kein eschatologisches Konzept, <strong>für</strong> dass er Handlungsanweisungen gibt. Seinfocus imaginarius geht ins Offene, Unbestimmte. Jede strikte Verknüpfung zwischen Verheißungund Erfüllung ist Mythologie. Sie birgt die Gefahr des Missbrauchs:»Mann hat mit Mythen Missbrauch getrieben, und den will ich aufheben. Sie dürfen ja nie, wie im DrittenReich, eine Handlungsanweisung sein, wie etwa Görings Rede zu Stalingrad. Er sprach unter anderem vomTrinken des eigenen Blutes. Ich möchte die Mythen nicht darstellen, ich arbeite an ihnen weiter.« (WaZ,17. 8. 2003)IMAGE I Ausgabe 4 I 7/2006 25
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